Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
trat in die Pedale, die milde Oktobersonne im Gesicht, und war überzeugt, einen leichten, angenehmen Job vor mir zu haben. Jedenfalls solange ich mich von meiner Klientin fernhielt. Valerie de Chavannes war eine anziehende Frau, keine Frage, und wenn mich nicht alles täuschte, hatte sie gegen ein bisschen Trost, wenn er auf die richtige Art und Weise gespendet wurde, nichts einzuwenden. Aber anziehende Frauen gab es viele, mit einer wohnte ich zusammen. Und sowieso, Valerie de Chavannes’ Himmel und Hölle versprechender Blick schien mir die Bandbreite an möglichen Gefühlszuständen mit ihr ziemlich genau abzudecken. Und wer wollte in meinem Alter Hölle? Ich war Anfang fünfzig, ich erledigte meine Arbeit, zahlte meine Rechnungen, ich hatte es geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören, trank fast nur noch gepflegt zwei, drei Bier am Abend oder ein paar Flaschen Wein mit Freunden, und ich plante mit Deborah unsere Zukunft. Heute Morgen, gerade eben noch, war ich rundum zufrieden aus der Haustür getreten und hatte mich mit einem Apfel in der Hand aufs Rad geschwungen. Vielleicht war das nicht der Himmel, aber es kam ihm ziemlich nahe.
Und dann tat ich es doch: Ich hielt mir die Fingerspitzen, die eben noch Valerie de Chavannes Achselhöhlen berührt hatten, an die Nase und roch einen leichten Schweißgeruch mit Lavendel, und für einen Moment fühlte es sich an, als würde mir die Oktobersonne auf den Kopf brennen wie ihre Schwester im August.
2
Mein Büro befand sich im zweiten Stock eines herunter- oder vielleicht nie hochgekommenen Sechziger-Jahre-Wohnhauses am Anfang der Gutleutstraße in der Nähe des Hauptbahnhofs. Von der Fassade bröckelte rosabrauner Putz, an vielen Stellen kam die Backsteinmauer hervor, manche Fenster waren mit Bettlaken verhängt, andere mit Möbeln zugestellt, im dritten Stock blinkten das ganze Jahr über Weihnachtslichterketten, und im vierten klebte auf einer Scheibe der Schriftzug Frankfurt Hooligan. Im Erdgeschoss gab es einen Secondhandkleiderladen, in dem man gebrauchte Moonboots, Polyesterhemden und rissige Gürtel kaufen konnte und den mein Freund Slibulsky wegen des Geruchs, der dem Laden bei offener Tür entströmte, »Third Armpit« nannte. Die Haustür in der Einfahrt war mal aus geriffeltem Glas gewesen, bis ein Betrunkener sie vor drei Jahren eingetreten und der Hausbesitzer das Glas durch ein Holzbrett ersetzt hatte.
Im graugelb gestrichenen Treppenhaus roch es nach Katze und Reinigungsmittel. Wenn man den halb weggebrochenen Lichtschalter fand und drückte, schaffte eine kerzenförmige, nackte Energiesparbirne gerade genug Halbdunkel, dass man die Treppe nicht verfehlte. Auf das Geländer schmierte ein Scherzkeks immer mal wieder irgendeine klebrige Substanz, Marmelade, Honig, UHU . Ich war sicher, dass es sich beim Täter um den zwölfjährigen Sohn eines alleinerziehenden Vaters im vierten Stock handelte. Aber ich konnte ihm nichts beweisen. Einmal hatte ich ihn drauf angesprochen, und seine Antwort war gewesen: »Eine klebrige Substanz? Sind Sie sicher, dass die auf dem Geländer war? Haben Sie sich vorher die Hände gewaschen?« Der kleine Drecksack.
Vor dreizehn Jahren hatte eine kroatische Mafia, die mich von Nachforschungen abhalten wollte, mein früheres Büro in die Luft gesprengt. Die Zweizimmerwohnung in der Gutleutstraße war ein schneller, billiger und – wie ich damals dachte – vorübergehender Ersatz gewesen. Doch die Befürchtung, bei der Adresse und dem Zustand des Hauses nur noch Klienten mit Vorstrafenregister oder schweren Drogenproblemen zu bekommen, erwies sich als übertrieben. Zwar hätte ich mit der Laufkundschaft, die nur wegen des Schilds Kemal Kayankaya – Ermittlungen und Personenschutz den düsteren Weg in den zweiten Stock gefunden hatten, in den ersten Jahren kaum die Miete reingekriegt, aber ich hatte als Detektiv keinen schlechten Ruf in der Stadt, die Mund-zu-Mund-Propaganda funktionierte, und die Geschäfte liefen. Mein Wunsch nach repräsentativeren Büroräumen verblasste. Ich gewöhnte mich an die Gegend, den Kastanienbaum vorm Fenster und das kleine Café Rosig an der Ecke, bis der Siegeszug von Internet und Computertechnik das Büro überflüssig machte. Meine Klienten kontaktierten mich per E-Mail oder Telefon, meine Unterlagen aus Papier passten in einen Schuhkarton, und zu geschäftlichen Verabredungen traf ich mich im Café Rosig. Ich hätte als Geschäftsadresse meine Privatwohnung angeben können. Doch dann
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