Das Nest
EINS
»Absolut mörderisch«, beschwerte sich Lindsay Gordon, sackte in ihren Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. »Ich halt’s einfach nicht aus, wenn sich so rein gar nichts abspielt. Schau uns an. Acht Uhr abends in der dynamischen Redaktion einer großen Tageszeitung. Der Chef vom Dienst telefoniert mit seiner Tochter in Detroit. Sein Vertreter strapaziert die spärlichen Reste seiner Gehirnzellen mit dem Lösen von Kreuzworträtseln. Ein Reporter war vernünftig genug, ins nächste Lokal zu flüchten. Der andere sitzt am Redaktionscomputer und schreibt an seiner Version des Großen Englischen Romans…«
»Und die dritte nörgelt immer vor sich hin«, bemerkte der hoffnungsvolle Schriftsteller, indem er kurz vom Bildschirm aufsah. »Mach das nicht so runter, Lindsay, es ist besser, als zu arbeiten.«
»Hm«, brummte sie und griff zum Hörer. »Manchmal bin ich da nicht so sicher. Ich telefonier’ mal ’ne Runde, vielleicht krieg’ ich raus, was sich so alles tut in der großen bösen Welt da draußen.«
Der Kollege grinste. »Wo liegt das Problem? Sind dir die Freunde ausgegangen, die du anrufen könntest?«
Lindsay schnitt eine Grimasse. »So ähnlich«, antwortete sie. Während sie ihr Adreßbuch auf der Seite mit den Telefonnummern von Polizei, Feuerwehr und Krankenhäusern aufschlug, grübelte sie über ihren Einstellungswandel bezüglich des ungehinderten Zugangs zum Redaktionstelefon, seit sie von ihrem Bollwerk Glasgow nach London gezogen war, um hier mit ihrer Geliebten Cordelia zusammenzuleben. Damals hatte sie die ruhigen Abenddienste durchaus geschätzt, weil sie ihr die Möglichkeit boten, die halbe Nacht mit Cordelia über alles und nichts zu plaudern. Zur Zeit hingegen schafften sie es mühelos, das, was sie sich zu sagen hatten, in den paar Stunden zwischen Arbeit und Schlafen unterzubringen. Mitunter fand Lindsay es sogar einfacher, sich statt Cordelia anderen Freundinnen anzuvertrauen. Schaudernd begann sie mit den Telefonaten.
In der Chefredaktion beendete Cliff Gilbert, der Chef vom Dienst, sein Telefongespräch und fing an, den Nachrichtencomputer nach heißen Stories zu durchforsten. Nach einigen Minuten dröhnte er: »Lindsay, bist du frei?«
»Ich häng’ gerade am Telefon, Cliff«, rief sie zurück.
»Vergiß es. Gerade ist ein verdammt guter Tip von einer Lokalzeitung in Fordham hereingekommen. Im Frauenfriedenscamp in Brownlow Common scheint es einen kleineren Aufstand zu geben. Ich hab’s dir auf deinen PC rübergeschickt. Überprüf das, ja?« bat er.
Lindsay hievte sich in eine gerade Sitzposition und rief die paar Absätze auf. Die Geschichte schien auf den ersten Blick eindeutig und klar. Ein Dorfbewohner behauptete, von einer der im Friedenscamp wohnenden Frauen angegriffen worden zu sein. Bei dem Vorfall war seine Nase gebrochen, die Frau in Gewahrsam genommen worden. Sofort regte sich Mißtrauen in Lindsay. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß ein Mitglied einer Gruppe, die den Anspruch erhob, für den Frieden zu kämpfen, einen Gegner des Anti-atomaren Protestes körperlich angreifen sollte. Aber sie besaß genug berufliche Erfahrung um zu erkennen, daß ihre spontane Reaktion genau unter die Art von gedankenlosem Vorurteil fiel, die sie lustvoll verdammte, wenn sie von der Gegenseite kam.
Die Zusammenstöße, die mittlerweile vor dem Polizeigebäude in Fordham stattfanden, machten die Story für die Redaktion des Daily Clarion interessant. Bei dem Attackierten, dem aus dem Ort stammenden Juristen Rupert Crabtree, handelte es sich um den Vorsitzenden des Vereins Steuerzahler gegen die Zerstörung Brownlows – einer Interessensgruppe mit dem Ziel, die Frauen von dem Gemeindeland vor dem Ort, zu vertreiben. Seine Beschuldigung hatte eine spontane Demonstration provoziert: Die Frauen belagerten offensichtlich das Polizeigebäude. Und diese Aktion war wiederum der Grund für eine Gegendemonstration von erbosten Mitgliedern des Steuerzahler-Vereins. Allem Anschein nach braute sich da etwas Gröberes zusammen.
Lindsay begann mit den Telefonaten, stieß aber bald auf eine Wand des Schweigens. Die Polizei in Fordham leitete alle Gespräche an die übergeordnete Dienststelle weiter. Diese wiederum versteckte sich hinter der alten Entschuldigung: »Wir können noch keinen Kommentar abgeben, es kommen nach wie vor Berichte herein.« Derartige Enttäuschungen waren für Lindsay nichts Neues. Sie schlenderte zu Cliff hinüber und erklärte ihm das
Weitere Kostenlose Bücher