Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Überblick behalten. Trotzdem wollte er auf Nummer sicher gehen. Er blickte über die vielen Menschen hinweg, Richtung Osten.
Es dauerte nicht lange, bis er den schwarzen Zylinder sah. Er überragte die Menschenmenge wie ein Schornstein die Dächer. Seine Augen fest auf den Jungen gerichtet, ging der Mann mit derselben Geschwindigkeit wie vorhin. Keinen Deut schneller oder langsamer. Ruhig, energisch und unaufhaltsam.
Auf einmal wurde Oskar klar, dass dies kein Zufall sein konnte. Es war nicht mehr zu leugnen: Er wurde verfolgt. Sein mulmiges Gefühl begann sich in handfeste Panik zu verwandeln. Die Mappe unter den Arm geklemmt, eilte er weiter. Fieberhaft überlegte er, was zu tun sei. Der Mann war gefährlich, keine Frage. Aber letztendlich zählte nur, wer der Schlauere war. Oskar kannte sich hier aus wie in seiner Westentasche. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er eine Entscheidung gefällt. Gleich an der nächsten Kreuzung bog er wieder links ab. Die Ziegelstraße war eine Sackgasse, deren hintere Gebäude an das Grundstück des Schlosses Montbijou grenzten. Eigentlich eine Falle, hätte es da nicht diesen rechten Kellereingang gegeben, der stets unverschlossen war. Von hier aus führte ein geheimer Weg hoch über die Dächer zurück in Richtung Norden. Oskar hatte ihn schon oft benutzt, wenn er sich schnell und unbemerkt verkrümeln musste. Ein narrensicherer Fluchtweg. Voraussetzung war nur, dass man nicht dabei beobachtet wurde.
Er gab Fersengeld und lief so schnell, wie es seine glatten Schuhe erlaubten, zum hinteren Teil der Straße. Als er die Kellertreppe erreichte, war er schweißgebadet. Er eilte die paar Stufen hinunter, duckte sich und warf einen kurzen letzten Blick zurück über die Schulter. Keine Spur von dem geheimnisvollen Unbekannten. Mit aller Kraft stieß er die Tür auf, zog den Kopf ein und tauchte in die Dunkelheit.
Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich an die Düsternis gewöhnt hatte. Der Keller war schon vor einigen Jahren aufgegeben worden und diente nur noch als Fluchtweg, falls der Haupteingang aus irgendwelchen Gründen einmal blockiert sein sollte. Außer ein paar staubigen Regalen, in denen leere Flaschen lagen, gab es hier unten nichts von Bedeutung. Durch einen schmalen Schacht sickerte ein wenig Tageslicht, das gerade ausreichte, um sich zu orientieren. Oskar durchmaß den Raum mit schnellen Schritten, öffnete die aus groben Latten gefertigte Tür am anderen Ende des Korridors und lief einen Gang entlang, von dem aus weitere Gänge in andere Keller abzweigten. Dann stand er vor der schweren Eichentür, die ins Treppenhaus führte. Eine Weile lauschte er. Alles schien ruhig zu sein. Einzig der Klang einer Violine zeugte davon, dass zumindest der brotlose Musiker zu Hause war. Oskar entschied, dass es gefahrlos war, das Treppenhaus zu betreten. Er drückte mit aller Kraft gegen die massive Holztür und schob sie auf. Ein unangenehmes Quietschen erklang. Rasch schlüpfte er durch den Spalt und eilte die Stufen hinauf. Am Bleiglasfenster im ersten Stock blieb er stehen und spähte hinunter auf die Ziegelstraße. Einige Passanten überquerten das Kopfsteinpflaster, doch von dem Mann mit dem schwarzen Umhang war nichts zu sehen. Vielleicht hatte er die Verfolgung aufgegeben. Oskar, der es nicht riskieren wollte, zur Vordertür hinauszuspazieren und ihm doch noch in die Arme zu laufen, hielt an seinem Plan fest. Auf leisen Sohlen erklomm er das hölzerne Treppenhaus. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt. Dieser Teil des Fluchtweges war der riskanteste. Man musste immer damit rechnen, dass sich eine der Türen öffnete und ein Bewohner oder ein Mitglied des Dienstpersonals einen entdeckte. Dann half nur noch die Flucht nach vorn. Doch bisher war immer alles gut gegangen. Er kam an der Tür des Musikers vorbei. Das Gefiedel hatte etwas Trostloses, zumal der Künstler immer an derselben Stelle scheiterte. Oskar erreichte den vierten Stock. Hier befand sich der Aufgang, der zum Dachboden führte. Er öffnete die weiß gestrichene Tür, schlüpfte hindurch und schloss sie leise hinter sich. Nur noch ein paar Schritte, dann war er auf dem Dachboden angelangt. Hier erlaubte er sich eine kurze Pause. Er kauerte sich neben eines der kleinen Dachfenster, öffnete den Ordner und zog das hellbraune Portemonnaie hervor. Es war so gut wie neu, sah man einmal von einer kleinen Druckstelle auf der Rückseite ab. Sein Gewicht zeugte davon, dass sich etliche Münzen darin befanden. Mit
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