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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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merkte es, aber sagte nichts. Was waren schon dreizehn österreichische Schilling im Vergleich zu seinen Schwierigkeiten. Er grinste, zahlte und ging.
    Das Hauptpostamt in Wien ist ein altes Gebäude, inmitten alter Gebäude. Die dicke Telefonistin am Schalter paßte in diese Gegend.
    Herbert fingerte einen Zettel aus seiner Tasche, eine Telefonnummer, und sagte: »Ferngespräch nach New York.« Die Alte war wenig beeindruckt. Sie gab ihm ein Zeichen, auf einer Holzbank Platz zu nehmen. Die Bank war ebenso alt wie das Haus, und die dazupassende Telefonistin meinte gnädig, es könne ein paar Minuten dauern. Dann telefonierte sie eine Weile und sagte etwas, das Herbert nicht verstehen konnte, denn ein Fernschreiber tickte hinter dem Schalter; selbst ein schriller Hilfeschrei wäre in diesem Lärm untergegangen. Herbert rauchte.
    Dann winkte’ das alte Postroß: »Zelle eins«, verstand Herbert, ging gehorsam in Zelle eins und nahm den Hörer. Es rauschte, »hallo«, sagte dann jemand. Eine großartige Erfindung, dieses Telefon. »Du altes Arschloch«, sagte Herbert und hörte, wie Bill lachte. »Was is«, hörte er noch. »Wie geht’s dir«, sagte er. »Red nicht herum, was is?«
    »Ich sitz’ in der Klemme.« sagte er.
    »Brauchst mich?« hörte er Bill sagen, nun lachten beide: »Glaubst du, ich ruf dich an, weil mich das Wetter in Brooklyn interessiert?« Eine Sekunde lang war Rauschen.
    Es rauschte in der Leitung, das war alles, was Herbert hören konnte. Und sein Herz klopfte. Wie überflüssig. »Ich komme mit der nächsten Maschine«, hörte er. Was für ein Tag für Herbert Winkler! Was für ein großartiger Tag! Gewonnen! Alles gewonnen! Er hatte es gewußt, auf Bill war Verlaß. »Bist du noch da?« hörte er. »Du kannst auch mit der übernächsten Maschine kommen«, sagte er. »O. K. Alter, halt die Ohren steif, ich ruf dich an, von irgendwo in Europa. Ich komm’ mit der nächsten Maschine, halt die Ohren steif.«
    Herbert spürte seine Tränen, wie sie sich am Kinn sammelten, dann auf seine Hand tropften. »Meine Spesen, Alter«, sagte er.
    »Vergiß die Spesen«, hörte er – dann eine Frauenstimme: »Three minutes over.«
    »Ich wart’ auf dich«, sagte Herbert. »Ich komme«, hörte er, legte auf.
    Was für ein Tag! Er wischte sich das Gesicht ab, ging zu dem Postroß am Schalter und bezahlte 310 Schillinge! Die Welt war wunderschön. Er zündete sich eine Zigarette an, bevor er bemerkte, daß er noch eine brennende in der Hand hielt. Die Welt war schön, das Leben großartig. Der Fernschreiber ratterte immer noch. Zu zweit waren sie unschlagbar, wie in alten Zeiten.
    Herbert verließ den Schalterraum, auf dem langen Korridor zum Ausgang begegneten ihm zwei Männer. Waren das nicht die kartenspielenden Gastarbeiter aus dem Kaffeehaus, von vorhin?
    Er sah auf der Straße einen blauen Citroen. Wenn schon! Oder war es doch derselbe, den er heute morgen gesehen hatte? Irgendwer, irgend etwas stieß ihn in den Rücken, ziemlich heftig.

 

    III
    In den letzten zehn Jahren hatte Bill White genau zehn Kilo zugenommen. Trotzdem hätte ihn jeder Polizist bei seiner Personenbeschreibung als »groß und schlank« bezeichnet. Er hatte das Glück, daß sich die in den letzten zehn Jahren in Brooklyn angefressenen zehn Kilo ziemlich gleichmäßig verteilten. Angezogen wirkte er immer noch schlank – bei achtundachtzig Kilo Lebendgewicht –, wie er ausgezogen aussah, wußte nur er, und er fluchte jedesmal, wenn er sich im Spiegel begegnete. Das wußte also nur er. Joan kümmerte sich ja nicht darum und schließlich – er auch nicht mehr. Die zehn angefressenen Brooklyn-Kilos waren nun einmal da, und er tröstete sich damit als einer Art Alterserscheinung. Übrigens war der Terminus »angefressen« nicht ganz richtig »angesoffen« käme der Wahrheit sicherlich näher.
    Bill fand einen Parkplatz, fast unmittelbar vor »Jacks Pizzahouse«, und das war wahrscheinlich das einzig Erfreuliche an diesem Tag. In seiner Wohnung brannte Licht, Joan war also zu Hause. Am liebsten wäre Bill gleich zu Jacks gegangen, hätte eine Pizza gegessen und sich mit Chianti betrunken. Aber bei Joan wußte man nie – womöglich hatte sie ihren klaren Tag, hatte gekocht, und die Wohnung war sauber und eine Kerze brannte auf dem Tisch. Das war zwar schon eine Weile her, als das zum letzten Male passiert war, immerhin beschloß Bill erst einmal hinüberzugehen in seine Wohnung.
    Er stellte den Kragen seines Lederrockes hoch,

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