Das Archiv
I
Wien, 1. November 1975
Ein Samstag, ein Feiertag: Allerheiligen. Es ist zehn Uhr Vormittag und es regnet. Herbert Winkler steht am Fenster seines Appartements – Zimmer – Kochnische – Badenische – alles in allem zweiundvierzig Quadratmeter Wohnfläche, groß genug für einen Junggesellen. Er starrt hinaus in den Regen, auf die graue Straße, die grauen Fassaden der Häuser gegenüber und auf die Menschen unter Regenschirmen, die sich auf die Haltestelle einer Straßenbahn hin bewegen. Sie tragen Blumen oder Kränze und sind auf dem Wege zum Friedhof. Es sind fast nur ältere Menschen. Weiß der Teufel, wo die jungen Leute an diesem Vormittag geblieben sind.
Es ist warm im Zimmer und rauchig. Ein Schrank ist da, die Türe offen. Ein paar Anzüge hängen darin, ein Ledermantel. Auf einem Tisch liegen Zeitungen, Zigaretten und ein Paar Socken. Der Aschenbecher ist randvoll. Zwei leere Bierflaschen stehen auf dem Boden. Das Bett ist zerwühlt, und das Leintuch eher grau als weiß. Die leise Musik im Radio wird unterbrochen von der Zeitansage, dann folgen Kurznachrichten. Österreichs Bundespräsident hat den Wahlsieger Kreisky formell mit der Regierungsbildung beauftragt. Franco in Spanien kann noch immer nicht sterben. In New York befürchtet man eine Revolution der Afro-Asiatischen Staaten der UNO gegen den Zionismus. Im Sicherheitsrat wird die Zyperndebatte neu aufgenommen. Die Zigarettenpreise werden steigen. Auf der Westautobahn forderte ein Verkehrsunfall fünf Tote. Dann spielt man wieder Musik. Herbert Winkler steht in Unterwäsche hinter dem Vorhang und raucht. Zu einem Pyjama oder Nachthemd hat er es nie gebracht, er war nie verheiratet. Sein Haar ist grau wie seine Bartstoppeln. Er ist 1,82 in groß und schlank, von hinten könnte man ihn für dreißig halten – aber er ist fünfzig, nur hatte er in seinem Leben nie Gelegenheit gehabt, fett zu werden.
Er beobachtet die Menschen auf der Straße und die Regentropfen auf den Fensterscheiben. Er hat schlecht geschlafen. Ein Kaffee würde ihm guttun, aber sein Stamm-Espresso an der Ecke hatte sicher geschlossen, wegen des Feiertages. Und um selbst Kaffee zu machen, fehlt ihm die Energie.
Wenn er nicht die grauen Männlein und Weiblein beobachtet, mit ihren Schirmen und Kränzen, wenn er sich von dem faszinierenden Spiel der rinnenden Tropfen am Fensterglas losreißen kann, sieht er schräg über die Straße zu einem Opel 1700, Baujahr 1971. Ein gutes Fahrzeug, auch vorschriftsmäßig geparkt. An sich also kein Grund für diesen eigenartig düsteren, verkniffenen Gesichtsausdruck Herbert Winklers, wenn er sein Auto betrachtet. Dieser fünfzigjährige Mann in farbiger Unterwäsche, die eher einem Teenager passen würde, hat weder Familie noch Verwandte, nur einen einzigen Freund, den er jetzt dringend brauchen könnte. Aber dieser Freund lebt in New York, und es ist zehn Jahre her, daß er ihn zum letzten Mal sah. Allein aber, das spürt Herbert Winkler, kann er sein Problem nicht lösen. Es ist alles zu unübersichtlich, zu verworren. Ein kühler Verstand und Willenskraft wären jetzt nötig, sonst war alles verspielt, alles aus. Herbert Winklers Willenskraft reichte aber nicht einmal aus, einen Kaffee zu kochen.
Er sieht wieder hinüber zu seinem Opel. Seit acht Stunden liegt eine Leiche im Kofferraum. Ein toter Mann um die Fünfzig, von dem Herbert Winkler nicht mehr weiß, als daß er ihn erschossen hat. Aus einem Meter Entfernung und in Notwehr, wie er hätte beschwören können. Aber wer würde ihm das schon glauben, nach alldem, was vorher passiert war.
Bill Weiß würde wissen, was zu tun wäre. Der alte Bill hatte immer noch eine Idee, wenn andere längst am Ende ihrer Weisheit waren. Sein Freund Bill. Aber der verkauft oder repariert jetzt in New York Fernsehapparate oder streitet mit seiner Joan. Herbert Winkler hätte ebenfalls mit dem »Job« Schluß machen sollen, damals vor zehn Jahren, als Bill heiratete und in die Staaten ging. Zu zweit waren sie unschlagbar gewesen, aber für ihn allein war alles immer irgendwie falsch gelaufen. Bill fehlte eben. Die Ideen fehlten, ohne die der ganze Job nicht richtig lief. Und jetzt hatte er auch noch eine Leiche am Hals oder genauer gesagt im Kofferraum seines Opels und keine Ahnung, wie man den Kerl mit dem Loch zwischen den Augen loswerden könnte. Ihn einfach irgendwo zu deponieren, in einem Wald oder in eine Schottergrube, war keine Lösung. So viel verstand Herbert Winkler auch ohne
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