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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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geschadet. Dennoch habe ich die ganze Welt gesehen. Ich habe meine Füße auf die höchsten Berge Asiens und Amerikas gesetzt, habe alle Sprachen der Welt gelernt und unter allen Herrschaftsformen gelebt. Ich habe einem Chinesen mein Geld geborgt, der mir den Leichnam seines Vaters verpfändete, ich habe im Zelt des Arabers geschlafen, nur seinem Wort vertrauend; ich habe in allen Hauptstädten Europas Verträge unterzeichnet und habe mein Gold bedenkenlos im Wigwam der Wilden gelassen; kurz, ich habe alles erreicht, weil ich alles zu verachten verstand. Mein einziger Ehrgeiz war: zu sehen. Sehen, heißt das nicht wissen? Oh, junger Mann, heißt wissen nicht intuitiv genießen? Heißt dies nicht das Wesen der Dinge entdecken und sich dessen zu bemächtigen? Was bleibt uns vom materiellen Besitz? Eine Vorstellung. Urteilen Sie nun selbst, wie schön das Leben eines Mannes sein muß, der alle Wirklichkeit in sein Denken aufzunehmen vermag, den Ursprung des Glücks in seine Seele verlegt und so tausend vollkommene Freuden genießt, die von irdischem Makel befreit sind. Das Denken ist der Schlüssel zu allen Schätzen, es verschafft die Freuden des Geizigen, ohne dessen Sorgen. So habe ich mich über die Welt erhoben, und meine Genüsse sind geistiger Art gewesen. Meine Ausschweifungen waren die Betrachtung der Meere, der Völker, der Wälder, der Gebirge. Ich habe alles gesehen, aber in Ruhe, ohne Anstrengung; ich habe nie etwas herbeigewünscht, ich habe alles abgewartet. Ich habe das Universum durchwandelt wie den Garten eines Hauses, das mir gehörte. Was die Menschen Kummer, Liebe, Ehrgeiz, Mißgeschick, Traurigkeit nennen, das sind für mich Begriffe, die ich in Träumereien verwandle. Statt sie zu empfinden, verarbeite ich sie und verdeutliche sie; anstatt von ihnen mein Leben verzehren zu lassen, dramatisiere und entwickle ich sie und ergötze mich daran wie an Romanen, die ich mit meinem inneren Auge lese. Da ich meine Organe niemals überanstrengt habe, erfreue ich mich noch einer guten Gesundheit. Da meiner Seele die ganze Kraft, die ich nicht verbraucht habe, zugute gekommen ist, so ist mein Kopf noch besser ausgestattet als diese Lagerräume. Hier«, sagte er und klopfte sich an die Stirn, »hier sind die wahren Millionen. Ich verbringe köstliche Tage, wenn ich in Gedanken den Blick in die Vergangenheit schweifen lasse; ganze Länder, Landschaften, Bilder des Meeres, Gestalten von historischer Schönheit beschwöre ich herauf. Ich habe ein imaginäres Serail, wo ich alle Frauen besitze, die mir nie gehört haben. Oft lasse ich eure Kriege, eure Revolutionen an mir vorüberziehen und urteile über sie. Oh! wie kann man die flüchtige, hitzige Lust an mehr oder weniger rosigem Fleisch, an mehr oder weniger üppigen Formen, wie kann man das Unheil, das von eurem betrogenen Willen kommt, der erhabenen Fähigkeit vorziehen, das Universum an sich zu reproduzieren, das ungehemmte Glück, sich frei zu bewegen, ohne an die Fesseln von Zeit und Raum gekettet zu sein, der Seligkeit teilhaftig zu werden, alles zu umfassen, alles zu sehen, sich über den Rand der Welt zu neigen, um die andern Sphären zu befragen, um Gott zu lauschen! Darin«, sagte er mit erhobener Stimme und deutete auf das Chagrinleder, »darin sind ›Können‹ und ›Wollen‹ gleich. Da sind eure sozialen Ideen, eure ausschweifenden Begierden, eure maßlosen Genüsse, eure tödlichen Lüste, eure lebenszehrenden Schmerzen vereint; denn der Schmerz ist vielleicht nur eine allzu heftige Lust. Wer vermag wohl den Punkt zu bestimmen, wo die Lust Schmerz wird und wo der Schmerz noch Lust ist! Tun nicht die lichtesten Strahlen der idealen Welt dem Auge noch wohl, während jede noch so gelinde Finsternis der physischen Welt ihm weh tut? Kommt das Wort Weisheit nicht von Wissen? Und was ist die Torheit, wenn nicht das Übermaß eines Wollens oder Könnens?«
    »Wohlan denn, ich will leben im Übermaß!« sprach der Unbekannte und ergriff das Chagrinleder.
    »Junger Mann, hüten Sie sich!« rief der Alte mit unglaublicher Heftigkeit.
    »Ich hatte mein Leben dem Studium und dem Denken geweiht, aber es hat mir nicht einmal Brot gegeben«, erwiderte der Unbekannte. »Ich will mich weder von einer Predigt zum Narren halten lassen, die eines Swedenborg [Fußnote: Swedenborg , Emanuel von(1688-1772): schwedischer Theosoph und Naturwissenschaftler; lehrte den organischen und mechanischen Zusammenhang aller Dinge. Er soll eine Vision gehabt haben, bei der ihm

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