Das Dante-Ritual (German Edition)
schon die Lichter von Alex´ Brasserie erkennen, als ich hinter mir Schritte hörte. Ich drehte mich um und erahnte einen Schemen. Ob Mann oder Frau, ließ sich aus der Entfernung nicht sagen. Der Schatten war noch knapp fünfzig Meter entfernt, bewegte sich aber doppelt so schnell und dreimal so geradlinig wie ich selbst. Der Statur nach ein Mann, mutmaßte ich, als sich die Gestalt weiter näherte. Ich stolperte an den Rand der Promenade, lehnte mich mit dem Rücken an einen Baum und fummelte meinen Tabakbeutel aus der Hosentasche. Ich musste mich konzentrieren, die Blättchen nicht falsch herum zu halten.
Als ich mein Feuerzeug aufflammen ließ, stand der Mann direkt vor mir. Er war maskiert.
Der erste Hieb traf mich an der Schläfe. Meine linke Gesichtshälfte krachte dumpf gegen den Baumstamm. Ein zweiter Schlag folgte in die Magengrube. Ich spuckte Blut. Eine Hand krallte sich in meine Haare und schmetterte mein Gesicht gegen den Baum. Mit einem hässlichen Krachen barst mein Nasenbein und füllte meinen Mund mit einer ekligen Flüssigkeit.
Ich rutschte am Baumstamm herunter.
„Das war es dann wohl.“ Der Angreifer beugte sich über mich und ließ ein Butterflymesser aufschnappen. „Bye, bye, Kramer.“
Das Letzte, was ich wahrnahm, war ein zweiter Mann, der sich wie aus dem Nichts auf den Maskierten stürzte. Er trug eine Baseballkappe. Sie schien mir grün zu sein.
Dann wurde mir schwarz vor Augen.
Schauermärchen
Wandfackeln tauchten das Inferno in einen schwachen Widerschein. Das Kaminfeuer in der Ecke spendete noch einen Hauch von Wärme, und zwei der drei anwesenden Brüder zogen ihre Stühle zum Kamin herüber, wo sie sich niederließen und schweigend auf die glimmenden Holzscheite starrten.
Der dritte Mann, der am Tisch in der Mitte des Raumes sitzen geblieben war, beachtete seine jüngeren Mitbrüder kaum. Die unerwartete Wendung der Ereignisse gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie hatten alle Trümpfe in der Hand gehalten. Philip Kramer hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass sein Leben seit Frank Laurenz´ Tod an einem seidenen Faden hing. Jetzt war er gewarnt, und die Polizei gleich mit.
Eine zweite Chance würde es nicht geben.
Völlig unerwartet war sein Plan ins Stocken geraten. Wie hatte ihm nur ein solcher Anfängerfehler unterlaufen können? Und wie sollte es jetzt weitergehen? Die neue Situation schrie nach Alternativen, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Kindheitserinnerungen drangen in seinen sonst so analytischen Verstand. Fragmente eines Lebens, das nicht mehr das seine war. An das er sich nur in der dritten Person erinnern konnte, als hätte ein anderer Mensch es gelebt.
Nie war er gefragt worden. Nie hatte er selbst entscheiden dürfen. Er hatte sich seines freien Willens beraubt gefühlt, sobald der Tag gekommen war, an dem er begreifen sollte, was freier Wille überhaupt bedeutete. Jener Tag – der Tag der Erleuchtung, wie er ihn heute nannte – war der Todestag seiner Eltern gewesen. Als man ihn damals in die Obhut von Opa Friedrich gegeben hatte, seinem einzigen noch lebenden Verwandten, war er gerade sechs Jahre alt geworden. Das Schlimmste war, dass es niemanden gab, dem er die Schuld für sein Schicksal hätte geben können. Niemand hatte ihn ausgesetzt wie einen Hund oder in einem Korb vor ein Kirchenportal gelegt. Der feiste, bierbäuchige Fettarsch von Lkw-Fahrer – zumindest stellte er ihn sich heute so vor -, der den Volvo seiner Eltern auf die Größe einer Abfalltonne zusammenschoben hatte, hatte den Unfall genauso wenig überlebt.
Opa Friedrich war ein verbitterter, von Hass zerfressener alter Mann. Hass auf die Juden. Hass auf die Schwulen. Hass aus das Leben. Abgrundtiefer Hass, den auch fünfzig Jahre Nachkriegszeit nicht hatten mindern können. Die Geschichten vom Afrikafeldzug fielen ihm wieder ein. Geschichten, die Opa Friedrich, den kleinen, verängstigten Enkel auf dem Schoß wippend, bei jeder Gelegenheit mit Inbrunst zum Besten gab. Seine Augen glänzten verklärt, wenn er erzählte, wie er den Bimbos Kugeln zwischen die Augen jagte, sobald einer der Krausköpfe hinter einem Baum hervorlugte. „Paff!“, rief Opa Friedrich dann immer und riss die Hände hoch, als halte er ein Sturmgewehr. „Paff! Paff!“
An den Wänden der muffigen Zweizimmerwohnung hingen Fotos von Männern in Uniformen. Eines war Opa Friedrichs ganzer Stolz. Es zeigt ihn vor einem Kübelwagen, Arm in Arm mit einem Kameraden, den er immer nur den Wüstenfuchs
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