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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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Augenblick, in dem er den Schlitten bestieg, fühlte er sich erleichtert und bedrückt. Wenn er die Stadtgrenze von Zlotogrod erreichte, graute schon der winterliche Morgen. Eibenschütz kehrte nicht nach Hause zurück. Er kehrte bei dem Barbier Leider ein, und er ließ sich rasieren und den Kopf kalt waschen. Er ging dann in das einzige Kaffeehaus der Stadt Zlotogrod, es nannte sich Bristol. Er trank einen Kaffee und aß zwei Kipfel, die so frisch waren, daß sie noch nach dem Bäcker rochen. Hierauf fuhr er ins Amt, saß stumpf vor dem leeren Tisch, auf dem begreiflicherweise noch keine Post liegen konnte, und erwartete den trägen, fetten Schreiber mit Ungeduld. Er ging hinaus und wusch sich, so, wie er war, in Pelz und Stiefeln, Gesicht und Hände unter der fürchterlich kalten Pumpe, die im Hof der Bezirkshauptmannschaft dastand, den Pferden der berittenen Gendarmerie zu dienen.
    An solchen Morgen dachte der Eichmeister gar nichts oder nur sehr wenig. Er dachte daran, daß es acht Uhr vom Kirchturm schlagen und daß der neue Schreiber so bald wie möglich kommen müßte. Als es endlich acht Uhr vom Kirchturm schlug, ging Eibenschütz noch hinaus, einen Rundgang durch die Stadt machen. Der Rundgang konnte nicht lange dauern, die Stadt war winzig. Er wollte nur nicht vor dem Schreiber dagewesen sein. Auch dachte er daran, daß ihm eine Rundfahrt durch die Stadt und durch den Frost nicht nur das Aussehen, sondern auch das Gefühl eines Menschen geben könnte, der in normalen Verhältnissen die Nacht durchgeschlafen hatte.
    Er fuhr also los, mit dem Schlitten durch den morgendlich knirschenden Schnee. Er kehrte zurück. Er führte den Jakob und den Schlitten zuerst nach Hause. Dann ging er, nicht ohne einen gehässigen Blick gegen die noch geschlossenen Fensterläden seines Hauses zu werfen, zu Fuß ins Amt.

XIV
    Auch im Amt noch konnte er sich nicht enthalten, an die Freundin Jadlowkers zu denken, an die Zigeunerin Euphemia Nikitsch. Auf eine seltsame Weise vermischte sich in ihm der berufliche und menschliche Ekel vor dem Gastwirt Jadlowker mit der schönen Sehnsucht nach der Frau Euphemia. Er wußte selbst nicht, der arme Eichmeister, was ihm da geschah. Es beunruhigte, ja, es erschütterte sein Gewissen, daß er dermaßen ständig, dermaßen unerbittlich, dermaßen gleichmäßig an die gesetzlichen Verfehlungen Jadlowkers denken mußte wie an die Schönheit Euphemias. Gleichermaßen dachte er an beides und auch gleichzeitig. Eins ging nicht ohne das andere.
    Auch dieser harte Winter ging vorüber, und es kam eine Nacht, da krachte das Eis wieder über dem Fluß Struminka. Und genau wie im ersten Jahr, als er angekommen war, aber nunmehr, wie ihm selber schien, sehr gealtert und vollkommen verwandelt, erlebte er in einer Nacht im März das Krachen des Eises über dem Fluß und die Aufregung der Einwohner. Diesmal aber bedeutete ihm der Einbruch des Frühlings etwas anderes. Er kam sich sehr gealtert vor, während er so das Jahr und die Welt neu werden sah, und keinerlei Hoffnung erwachte in seinem Herzen, wie damals im ersten Jahr seiner Ankunft. Auch heute noch, wie im ersten Jahr seiner Ankunft, standen die Leute da, an beiden Ufern des Flusses, mit Fackeln und mit Laternen, und sie sprangen plötzlich auf die treibenden Eisschollen, und sie hüpften wieder ans Ufer. Es war Frühling. Frühling war es! –
    Der Eichmeister Eibenschütz aber ging trostlos nach Hause. Was bedeutete ihm schon der Frühling? Was bedeutete ihm schon der Frühling? – Drei Tage später kam seine Frau nieder. In der Küche. Es war eine leichte Geburt. Kaum war die Hebamme gerufen worden, und schon war er da, der Sohn des Josef Nowak. Der Eichmeister Eibenschütz dachte, daß nur Bastarde so schnell und leicht zur Welt kommen.
    Die Nacht, in der ihm der Sohn des Josef Nowak geboren wurde, verbrachte der Eichmeister in der Schenke Jadlowkers. An diesem Abend erschien auch wieder an seinem Tisch die Frau Jadlowkers. Wie beim erstenmal sagte Euphemia: »Sie trinken nichts?« – »Wenn Sie wollen, daß ich trinke, so trinke ich«, antwortete er. Sie schnalzte mit den Fingern, und der Diener Onufrij kam und schüttete das Glas des Eichmeisters voll.
    Auch sie verlangte nach einem Glas. Man brachte es ihr. Sie trank den Neunziggrädigen in einem Zug aus.
    Sie näherte ihr Angesicht dem Eichmeister, und ihm war es, als seien ihre Ohren mit den großen, leise klirrenden Ohrringen ihm beinahe näher als ihre hellen Augen. Er sah sehr wohl

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