Das Falsche Gewicht
Gendarm. Man zeigte ihm Waagen und Gewichte, echte Waagen, echte Gewichte. Ach, er wußte wohl, daß es die falschen waren, die niemals benutzt wurden. Er prüfte die Punzierungen, er untersuchte Kummen, Fächer, Schubladen, Winkel, Verstecke. Bei der Geflügelhändlerin Czaczkes fand er sieben falsche Pfund- und Kilogewichte. Er schrieb sie auf, sie tat ihm leid. Es war eine alte, hagere Jüdin, mit geröteten Augen, einer harten Nase und einem zerknitterten, pergamentenen Angesicht. Man hätte sich eigentlich wundern müssen, wie es möglich war, daß so viele Runzeln auf so spärliche Wangenhäute geraten waren. Sie tat ihm leid, die arme Czaczkes. Dennoch mußte er sie aufschreiben. Offenbar waren ihre Hände zu kraftlos gewesen, um rechtzeitig die Gewichte hinauszuwerfen, wie es die andern getan hatten.
Sie begann sofort zu schreien: »Gewalt! Gewalt! Gewalt geschieht mir«, so schrie sie sinnlos, mit ihrer heiseren Stimme, es war etwas von Zirpen darin, von Krähen, von Schnattern. »Nicht aufschreiben, nicht aufschreiben!« rief sie, sie flatterte mit den Armen, raufte sich die braune Perücke, die über ihren silbergrauen Haaren saß, und begann sofort, ihre mageren Hühner, ihre armselige Ware hinauszuschmeißen in die Straßenmitte, in den Schlamm. »Diebe, Räuber, Mörder!« schrie sie. »Nehmt mir alles, nehmt mir alles! Nehmt mir das Leben!« Aus dem Kreischen fiel sie unmittelbar in ein herzzerbrechendes Schluchzen. Es besänftigte sie aber keineswegs, im Gegenteil, es schien sie noch zu größerer Heftigkeit zu reizen. Denn während ihre Tränen aus den entzündeten Augen strömten und ihre hageren Wangen überströmten wie ein Regen, warf sie noch immer alles hin, was ihr in die Hände kam, ein Teeglas, den Löffel, den Samowar. Vergeblich bemühte sich da der Eichmeister Eibenschütz, sie zu besänftigen. Sie griff endlich nach dem Messer, mit dem sie das Geflügel zu verschneiden pflegte. Sie stürzte aus ihrem Verschlag heraus, mit dem gezückten, großen, sägeartig gezähnten Messer. Ihre Perücke verschob sich, man sah unter den falschen braunen Haaren die echten wirren Knäuel ihrer grauen Locken, und der Eichmeister wich einen Schritt zurück, nicht des Messers wegen, sondern wegen der Haare. Der Gendarmeriewachtmeister Slama, mit geschultertem Gewehr, stand noch immer regungslos.
»Man muß sie abführen!« sagte er. Er ergriff ihre hocherhobene Hand, in der das Sägemesser drohte. In diesem Augenblick stürzten alle Händler aus ihren Buden hervor. Ein ungeheures Geschrei erhob sich. Man hätte glauben können, die ganze lebendige Welt schriee und empörte sich gegen die Verhaftung der Frau Soscha Czaczkes. Der Wachtmeister Slama tat ein übriges: er fesselte die Alte. Und so, keifend, schreiend, krächzend unverständliche und sinnlose Flüche, ging sie dem Gefängnis entgegen, zwischen den beiden Männern, dem Gendarm und dem Eichmeister.
Was den Eichmeister anbetrifft, so war er sehr aufgeregt. Er hatte nicht gewollt, daß man eine arme, törichte jüdische Geflügelhändlerin einsperrte. Er selbst stammte von Juden ab. Er erinnerte sich noch an seinen Großvater, der einen großen Bart getragen hatte und der gestorben war, als er, Anselm, acht Jahre alt gewesen war. Auch an das Begräbnis erinnerte er sich. Es war ein jüdisches Begräbnis. Eingehüllt in die weißen Leichengewänder, ohne Sarg, fiel der alte Großvater Eibenschütz in das Grab, und sehr schnell wurde es zugeschaufelt.
Ach, er war in einer gar schlimmen Lage, der Eichmeister Eibenschütz. Weh, sehr weh tat ihm sein eigenes Schicksal. Das Gesetz einzuhalten, war er entschlossen. Redlich war er, redlich, und sein Herz war gütig und streng zugleich. Was sollte er machen mit der Güte und Strenge zugleich? Zu gleicher Zeit läutete in seinen Ohren das goldene Läuten der kleinen Ohrringe der Frau Euphemia.
Er schritt dahin, als wäre er selbst gefesselt. Er mußte sich trotzdem noch an dem und jenem Laden aufhalten. Indessen schrie die Frau Czaczkes fürchterlich, und der Gendarm hielt sie an der Kette fest, während Eibenschütz die Waagen und Gewichte kontrollierte, an verschiedenen Ständen. Er kontrollierte flüchtig und hastig. Es widersprach seinem soldatischen und seinem beamtlichen Gewissen, aber was hätte er tun sollen? Die Frau schrie, das Volk der Händler benahm sich bedrohlich. Er wollte hurtig sein und dennoch gewissenhaft. Er wollte mitleidig, nachsichtig sein, und die Frau schrie dennoch, und
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