Das Fest Der Fliegen
Katheters wieder an den alten Stellen fest. Alles sah aus wie vorher. Ihr Herz schlug laut. Sie bekam nur mühsam Luft und zwang sich, ruhig zu atmen. Spannte die Muskulatur der Beine an, ließ los, spannte an. Allmählich verging die Kälte. Das dumpfe Geräusch einer Autotür. In der Mühle unten Stimmen, Schritte auf der Treppe. Martina tat, als ob sie erwachte. Der hagere Mönch, der sich über ihren Arm beugte, war keiner von den anderen hier. »Wer sind Sie?« »Oh, ich habe Sie geweckt? Keine Sorge, gleich werden Sie wieder schlafen. Was Sie jetzt bekommen, heißt Propofol. Man fühlt sich wunderbar. Alles ist gut, man selber ist gut, die Menschen sind gut. Und man schläft gut. Sehr gut. Diese Dosis reicht für einen langen, tiefen Schlaf.« »Ich will nicht schlafen. Helfen Sie mir. In Christi Namen!« Salviati richtete sich auf. Sein Gesicht näherte sich und sie konnte den seltsam hellen, grauen Glanz in seinen Pupillen sehen. »Sie sollten den Namen Christi nicht in den Mund nehmen. Das hört Luzifer nicht gern.« »Wie heißen Sie, sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen!« »Damit Sie ihn der Hölle verraten?« Salviati richtete sich kerzengerade auf. »Die Teufel werden schreien vor Wut, weil sie mich niemals kriegen können. Ich bin Giovanni Salviati. Früher hieß ich Peter Wordsworth, aber nun lebe ich schon über zwanzig Jahre als Legionär des heiligen Erzengels Michael. Ich bin ohne Sünde.« »Warum helfen Sie mir nicht, Peter?« Sie versuchte es mit Kleinmädchenstimme. »Ich helfe Ihnen ja.« Aus seiner Kutte zog er ein silbernes Brillenetui, öffnete es und zeigte Martina im schwarzen Samt zwei aufgezogene Venülenzylinder mit gelben Kolben, zwei Injektionsspritzen, Nadeln. »Siehst du, Tochter, in den dicken Zylindern ist der lange Schlaf, in den dünnen Spritzen ist der schnelle Tod. Ich möchte, dass du lebst. Die Jungfrau wird sich dir offenbaren. Doch nur, wenn das Böse, das in dir wohnt, dich vorher verlassen hat! Höre, Luzifer in diesem schönen Leib! Ich befehle dir ein letztes Mal, von ihr abzulassen. Gib sie frei! Sie ist die Schwester der heiligen Martina! Apage, satanas!« Er legte das Etui offen in ihren Schoß, schloss die Augen und betete leise: »Exorcizamus te, omnis immunde spiritus, omnis satanica potestas! Vade!« Langsam kam er wieder zu sich. »Hat er dich verlassen, meine Tochter?« In diesem Augenblick begriff Martina, dass der Mönch, der sich Salviati oder Wordsworth nannte, den Befehl hatte, sie zu töten, ihn aber nicht ausführen wollte. Er versuchte sie zu retten! Doch sie musste ihn dazu bringen, dem Befehl Folge zu leisten. Wenn er glaubte, sie zu töten, hatte sie eine Chance freizukommen. Wenn sie sich retten ließ, blieb sie seine Gefangene.
»Nein, er bleibt in mir! Er will das Gift für den schnellen Tod!« Salviati starrte sie an. »Das ist der Scheiterhaufen! Bist du so vollständig besessen? Satanas! Ich habe dir bei Christi Blut befohlen, diesen Leib zu verlassen!« Seit sie fünfzehn war, hatte sie sich ausgemalt, auf einer Bühne zu stehen, Schauspielerin zu sein. Der Wunsch hielt ein paar Jahre an. Sie las Hexenjagd von Arthur Miller. Vor dem Einschlafen tagträumte sie sich auf die kleine Bühne des Theaters in Zungen-Neustadt, TIZ , in der Rolle der Abigail . Jetzt spielte sie um ihr Leben: eine Besessene, die um den Tod bat. »Ich habe noch nie einen Menschen getötet.« Seine Stimme vibrierte. Martina sprach mit tiefer Stimme und trieb ihn an. »Ich spüre den Teufel in mir toben! Peter, erlösen Sie mich!« Salviati bekreuzigte sich. »Beten Sie! Heilige Maria Muttergottes, bete für uns arme Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.« »Ich kann nicht beten! Er wehrt sich gegen das Gebet!« Sie warf den Kopf hin und her und zuckte mit dem ganzen Körper. Entsetzt griff Salviati zu der Injektionsspritze mit Conotoxin, öffnete das Einspritzventil des Venenkatheters, hielt inne und legte das offene Etui auf den kleinen Lesetisch neben dem Sessel. »Vergeben Sie mir?« »Oh ja, ich vergebe Ihnen.« Er schlug das Kreuz über Martina, steckte die Spritze in das Ventil, drückte den Kolben langsam hinunter und ließ das Gift in die Venüle fließen. Martina fürchtete, zu schnell oder zu langsam zu sterben, zu wenig oder zu viel zu stöhnen, sich zu stark aufzubäumen oder zu schwach. Salviati enthob sie der schauspielerischen Mühen. Er zog die Spritze heraus, trat zwei Schritte zur Seite, bekreuzigte sich. Ihm war schwindlig, er
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