Das Geheimnis der Hebamme
dieser Satz wieder und wieder durch Marthes Kopf. Wulfhart würde sie verfolgen, bis er sie gefunden hatte und seine grausige Drohung wahr machen konnte.
Doch wohin konnte sie fliehen? Wovon sollte sie leben? Sie hatte keine Familie, keine Verwandten, die sie bei sich aufnehmen konnten.
Jede weise Frau musste damit rechnen, irgendwann einmal nach einem Misserfolg erschlagen oder verjagt zu werden. Nicht umsonst lebten sie etwas außerhalb des Ortes – eine Vorsichtsmaßnahme der Dörfler gegen den bösen Blick undanderes Unheil, das sie den Heilkundigen nur zu gern zuschrieben.
Aber in einem fremden Dorf würde ihr niemand trauen.
Tiefe Hoffnungslosigkeit erfüllte Marthe, als sie ihre Zukunftsaussichten überdachte: allein und hungernd durch die Fremde zu irren, als Heimatlose erschlagen zu werden oder als Hure zu enden. Oder alles zusammen, dachte sie verzweifelt. Die Ersten, denen ich über den Weg laufe, werden mich zur Hure machen und dann erschlagen, noch bevor ich Zeit habe, zu verhungern. Ich kann auch gleich zum Sterben hier liegen bleiben. Sie kroch wieder tiefer in das Gestrüpp zurück und verbarg den Kopf in den Armen. Wellen von Angst fluteten durch ihren Körper, bis sie am ganzen Leib zitterte.
Doch während Marthe in ihrem Versteck kauerte und darauf wartete, dass Oswald und Ludolf wieder zur Burg ritten, nahm ein Gedanke Form in ihrem Kopf an.
Sie fürchtete sich vor dem, was zu tun war. Aber sie wollte es wagen. Sie wollte leben.
Entschlossen wischte sie sich das tränennasse Gesicht mit dem Ärmel ab. Leise schlich sie zurück und schlug dann einen großen Bogen. Als sie außer Sichtweite der Berittenen war, begann sie zu rennen, weg von dem Dorf.
Marthe lief, bis ihr die Seiten wehtaten und sie kaum noch Luft bekam. Sie hielt kurz inne, bis ihr Atem etwas ruhiger wurde.
Die Spur, nach der sie gesucht hatte und der sie nun folgte, war deutlich zu sehen. Wagenräder hatten tiefe Furchen in den feuchten Boden gegraben. Marthe ging nicht auf dem Weg, sondern dicht daneben zwischen den Bäumen, um selbst keine Spuren zu hinterlassen und nicht gesehen zu werden.
Sie lief, so schnell sie in ihrer Erschöpfung konnte. Das Haarklebte an ihren Schläfen, der Zopf hatte sich beinahe aufgelöst. Der Korb mit den Kräutern und Tinkturen schlug bei jedem Schritt an ihr Bein, das schon beinahe gefühllos geworden war. Ein paar Mal war sie auf nassen Blättern ausgerutscht und gestürzt. Doch jedes Mal quälte sie sich wieder hoch. Sie war sicher, wenn sie auch nur einen Moment länger liegen blieb, würde sie nicht wieder aufstehen.
Als die Dämmerung einsetzte, wurde ihr immer banger ums Herz.
Was war, wenn sie diejenigen nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichte, nach denen sie suchte? Schließlich wusste jeder, wie gefährlich es war, nachts im Wald unterwegs zu sein. Selbst wer den wilden Tieren, bösen Geistern oder Räubern entging, lief immer noch Gefahr, in der Finsternis über eine Wurzel zu stolpern und sich das Genick zu brechen.
Bald hatte Marthe jedes Gespür für Zeit und Richtung verloren und nur noch einen Gedanken: unbedingt die zu finden, nach denen sie suchte, ehe sie im Dunkel die Spur verlor und schutzlos die Nacht im Wald verbringen musste.
Die Bäume hoben sich schwarz gegen den dunkelblauen Himmel ab, als sie endlich in einiger Entfernung vor sich ein Licht flackern sah.
Erleichtert blieb Marthe stehen. Das mussten sie sein. Ein Tross von Bauern, die nach Osten ziehen wollten.
Ein fremder Ritter hatte ihnen weit weg von hier Land versprochen, für das sie auf zehn Jahre keine Abgaben zahlen mussten, wenn sie es urbar machten. Das hatte auch in Marthes Dorf den ganzen Winter über für viel Aufregung gesorgt. Die Verlockung war groß, sich auf den gefahrvollen Weg ins Unbekannte zu machen, um der drückenden Not und der Willkür Wulfharts zu entkommen.
Doch von den Siedlern, die seit Generationen immer wieder gen Osten aufbrachen, hieß es nicht ohne Grund: »Der Erste hat den Tod, der Zweite die Not, der Dritte das Brot.«
Und konnte man dem Fremden trauen? Die Dorfbewohner hatten Marthe erzählt, dass er ein rechter Finsterling sei. Er mache wenig Worte und lächle nie. Sie selbst hatte ihn nur ein einziges Mal von weitem gesehen. Doch Jonas, der Sohn des Schmieds, und die rotblonde Emma aus ihrem Dorf hatten beschlossen, sich dem fremden Ritter anzuschließen. »Er wird ein besserer Herr als Wulfhart sein«, hatte ihr Emma voller Hoffnung gesagt, als sie
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