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Das Haus der Bronskis

Das Haus der Bronskis

Titel: Das Haus der Bronskis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Marsden
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wieder.
    Diese wurde 1916 ungeachtet ihres Alters von Lakaien eines chinesischen Kriegsherrn auf den Stufen ihrer eigenen Kapelle überfallen. Helena erhielt die Nachricht von ihrem Tod Anfang 1917.
     
    Die Flut war nach und nach in die Bucht hineingekommen. Von Norden blies ein kalter Wind. Zofia zog ihren Kragen hoch und sagte: »Ja, ich erinnere mich an die Geschichte. In Mantuski hatte sie diese Briefe noch. Sie bewahrte sie in einem chinesischen Elfenbeinkästchen auf. Weiß der Himmel, was aus ihnen geworden ist. Bei den Plünderungen weggekommen, nehme ich an, wie alles andere   ...«
    Sie sah zu den Bäumen hinauf. Die Zweige der Zwergeiche krümmten sich zu sonderbaren Schlangenformen. »Was mag uns wohl erwarten, Phiilip? Was werden wir dort vorfinden?«

4.
    I n einer feuchten
Mainacht überquerten wir die Grenze nach Weißrußland. Der Zug fuhr auf ein Rangiergleis, um auf riesigen hydraulischen Böcken angehoben zu werden   – die polnischen Fahrgestelle rollten weg, die sowjetischen rollten darunter. Grenzwachen stiegen zu, um die Papiere zu prüfen; das Schmatzen ihrer Stempel tönte laut durch den Gang.
    Nun waren wir in der alten Sowjetunion, und ich machte eine Flasche Wodka auf. Wir tranken auf den Grenzübertritt, und Zofia klopfte gegen die Flasche und sagte: »Ich glaube, wir brauchen sie noch mal. Hältst du sie bitte griffbereit?«
    Wir erreichten Minsk etwa um zwei Uhr früh. Der Zug schleuderte uns auf einen dunklen Bahnsteig hinaus und raste dann weiter in die Nacht hinein, auf Moskau zu. Zofia fröstelte. Sie schaute auf die verschwommenen Reihen sowjetischer Gebäude, auf die fremden Formen der kyrillischen Schrift und sagte: »Ach! Was für ein trostloser Ort!«
    Ihre Angst vor Rußland war etwas Elementares, Instinktives, etwas, was ihr mit den unwiderlegbaren Vorurteilen von Grenzlandbewohnern anerzogen worden war. Sie war im Schatten der neuen sowjetischen Grenze aufgewachsen, die etwa neunzig Kilometer östlich von Mantuski verlief. In jenen Tagen hatten nur Erzählungen deren Stacheldrahtrollen durchdringen können, Erzählungen und Leichen, die mit dem Gesicht nach unten im Njementrieben. Zwei Dinge hatte sie intuitiv gelernt: daß flußaufwärts in Rußland Mädchen wie sie, liebe landbesitzende Mädchen, umgebracht wurden; und daß die Gefahr, wenn sie drohte, immer von Osten kam.
    »Weißt du eigentlich, Phiilip, daß die ersten Russen, die ich je gesehen habe, die Soldaten in den Bäumen waren, als wir nach Litauen flohen?«
    Und nun war sie hier, ein halbes Jahrhundert später, um zwei Uhr morgens, östlich von ihrem alten Zuhause, das erstemal auf sowjetischem Boden.
    Kriegsähnliche Finsternis hing über der Stadt. Ich trieb ein Taxi auf, das auf der Suche nach einem Hotel durch die unbeleuchteten Straßen kroch. Im ersten Hotel hieß es »Njet!«. Im zweiten machte die Frau an der Rezeption sich nicht einmal die Mühe, »Njet!« zu sagen, sondern schüttelte bloß den Kopf. Im dritten sagten sie »Njet!«, und der Taxifahrer kam mit hinein, um zu verhandeln. Sie sagten immer noch »Njet!«.
    Der Fahrer und ich traten wieder auf die Straße hinaus. In unserer Abwesenheit war ein Mann ins Auto gestiegen. Ich konnte erkennen, daß Zofia sich auf dem Rücksitz duckte. Ich rannte hinüber, als er eben hinaussprang, auf die andere Seite entwischte, auf das Wagendach hämmerte und dann mit den Armen zu schlagen anfing wie ein Vogel. Ehe wir ihn aufhalten konnten, war er unter viehischem Gebrüll auf und davon.
    Ich machte die Wagentür auf. Zofia lachte, aber in der Dunkelheit sah ich, daß sie ihre Handtasche fest umklammert hielt. Ihre Hände zitterten.
    »Gott sei Dank bist du zurückgekommen! Was meinst du, war der verrückt oder bloß betrunken?«
    Wie auch immer, es bestätigte ihre schlimmsten Vorurteile.
    Wir kehrten zum ersten Hotel zurück und schafften es schließlich, ihnen zwei Zimmer abzuringen. Dabei stand das Hotel faktisch leer. In einem Zimmer im achten Stock machte ich den Wodka wieder auf und schenkte zwei Gläser ein.
    »Also dann, Zosia«, sagte ich, »auf gutes Gelingen!«
    »Aufs Gelingen«, sagte sie lahm.
    »Hast du Angst?«
    Sie sah mich an und nickte.
    »Wovor?«
    »Ich weiß es nicht, Phiilip. Ich habe nur so eine dunkle Ahnung. Vielleicht ist dies alles Wahnsinn. Ich meine, wie können wir denn dorthin zurück? Wie können wir je dorthin zurück?«
    Ich versuchte, es mit ihren Augen zu sehen. Aber wie denn? Helenas Tagebücher zu lesen hatte mich

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