Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
hatte, das ich genau zu kennen geglaubt hatte, zu einem geheimnisvollen Ort geworden, ich war mir vorgekommen wie Alice im Wunderland, und
Rock Around The Clock
von Bill Haley, das hatte ich sofort kapiert, war erst der Anfang. Im Freibad hatte ich mich dann oft bei den amerikanischen Soldaten herumgedrückt, weil mich die Musik aus ihren tragbaren Plattenspielern magisch anzog – Songs von Elvis Presley, Gene Vincent und so –, und im Laufe der Jahre war es nicht nur mir, sondern auch meinen Eltern und all den anderen Erwachsenen um mich herum so vorgekommen, als hätte sich der Rock’n’Roll so nach und nach in meinem ganzen Körper ausgebreitet. Wie eine schleichende Krankheit – nach Meinung der Erwachsenen. Ein Glücksfall – nach meiner Ansicht. Der Wunsch nach einer Gitarre war mir knallhart verwehrt worden, weil dieses Instrument, seitdem Elvis, Chuck Berry und Horst Gebhard, ein sogenannter Halbstarker aus der Nachbarschaft, damit herumliefen, nicht mehr mit Lagerfeuer und Wandern gleichgesetzt wurde, sondern nur noch mit Dekadenz, mit psychischem Schmutz, vermutlich sogar mit Sex, der zwar auch in den Köpfen der Erwachsenen hauste, aber dort sozusagen angekettet war wie ein unzähmbares Tier und deshalb wohl ein trauriges Kaspar-Hauser-Dasein fristete.
An Sex dachte ich momentan in der Bilka-Cafeteria auch, allerdings nicht intensiver als in den letzten Tagen, Wochen, Monaten. Eine Nutte wäre, na ja, okay. Nur nichts Persönliches, zumindest heute nicht – und wie denn auch? Ich meine, Frauen, die sich in Verbrecher verlieben, waren auch damals nicht allzu häufig anzutreffen. Oh Mann, ich wurde echt unruhig. Es wimmelte von leicht bekleideten Frauen in dünnen T-Shirts, unter denen die Titten fröhlich hüpften, als freuten sie sich, dass der BH aus der Mode gekommen war; ich glotzte auf hundert in enge Hosen gesperrte Ärsche, deren Schönheit ich nur erahnen konnte. Jetzt bloß keinen unkontrollierten Samenerguss, dachte ich schon wegen des unangenehm auffallenden Flecks, der dann meine Hose zieren würde, und zwang mich, an etwas Ekelhaftes zu denken, zum Beispiel an die eitrige Geschwulst am Nacken des Strafvollzugsbeamten Schlüter, und siehe da, die Erektion ließ nach – nicht völlig, aber genug, um mir das Aufstehen zu ermöglichen.
Draußen fiel Sonnenlicht zwischen zerfasernden Wolken hindurch auf die Straße und brachte die Pfützen zum Glitzern.
Alles so friedlich hier, dachte ich, während mich die Gießener Innenstadt gleichmütig aufnahm, während Passanten, Handwerker, Lieferanten achtlos an mir vorübergingen. Niemand ahnte, wo ich herkam, wo ich sieben Jahre lang gewesen war. Interessierte vermutlich auch keinen, störte mich aber momentan keineswegs. Ich war ohnehin nicht auf Kontakt eingestellt. Noch verunsicherten mich die vielen frei herumlaufenden Leute. Vielleicht, dachte ich, haben sich ja in den letzten Jahren außer der Mode auch die Sitten verändert, nicht alle, natürlich, doch möglicherweise ein paar so sehr, dass der Nichtwissende unangenehm auffällt. Ja, vielleicht fällt man nach so langer Zeit im Knast einfach aus der Gesellschaft heraus, wird als nicht mehr dazugehörig einfach abgeschoben – irgendwohin, weiß der Teufel wohin, in ein Lager, auf den Müll. Im Knast bin ich ja Unzähligen begegnet, die sich draußen nicht mehr zurechtgefunden haben, denen der Knast zur Heimat geworden ist.
Ich nahm mir vor, mich bedeckt zu halten, mich ganz langsam vorzutasten. Emanzipation zum Beispiel. Ich hatte im S PIEGEL eine Menge über die Frauenbewegung gelesen. Das war groß in Mode. Einerseits erkannte ich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, und ich hatte Männer, die dem anderen Geschlecht die Gleichberechtigung absprachen, schon immer für beschränkt gehalten – andererseits wusste ich natürlich nicht, was da auf mich zukommen würde. Ich ging jedoch nicht davon aus, dass in jeder Frau eine Domina steckt.
Anderes Straßenbild: So viele Langhaarige hatte es vor meiner Haft nicht gegeben, erstaunlich viele Ausländer, Neubauten, unbekannte Hunderassen, starke Polizei-Präsenz, na klar, ich war ja informiert: wegen der Terroristen. Baader, Ensslin und einige andere saßen zwar im Knast, die Meinhoff hatte sich, von aller Welt verlassen, in ihrer Zelle erhängt, doch es existierte bereits eine zweite R AF -Generation. Die neuen Auto-Modelle faszinierten mich, aber ich hätte Bedenken gehabt, so einen Wagen zu knacken, da ich gelesen
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