Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Süskind
Vom Netzwerk:
Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man führte ihn dem Bürgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzählte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjähriger Pause von sich gab -, aber gut verständlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Räubern überfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Höhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernährt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entführer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen räuberische Überfülle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Bürgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete über den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse.
    Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den Rücken gekehrt, sich auf seine Güter zurückgezogen und dort den Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk über dynamische Nationalökonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einführung einer umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den ärmsten am härtesten traf und ihn somit zur stärkeren Entfaltung seiner wirtschaftlichen Aktivitäten zwang. Durch den Erfolg des Büchleins ermuntert, verfasste er ein Traktat über die Erziehung von Knaben und Mädchen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die Übertragung von Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu züchten, eine Art Euterblume. Nach anfänglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Käses aus Grasmilch befähigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als «von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer» bezeichnet wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise über die Felder versprühten
    Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die Beschäftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde überhaupt und an ihrer Beziehung zur Biosphäre geweckt.
    Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, stürzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay über die Zusammenhänge zwischen Erdnähe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln könne, da die Erde selbst ständig ein Verwesungsgas verströme, ein sogenanntes «fluidum letale», welches die Vitalkräfte lahme und über kurz oder lang vollständig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wüchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trägen sie ihre wertvollsten Teile himmelwärts: das Korn die Ähre, die Blume ihre Blüte, der Mensch den Kopf; und deshalb müssten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrümme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
    Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Höhle - also völlig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzücken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer gründlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestätigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein fünfundzwanzigjähriger Körper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache - so erklärte Taillade-Espinasse -, dass Grenouille während seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Früchte, zugeführt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun könne der frühere

Weitere Kostenlose Bücher