Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
würde.
Saerin räusperte sich, sah Egwene unsicher an und rief erneut: »Wer tritt vor den Saal der Burg?«
Tesan beugte sich vor, als wollte sie Egwene die richtige Erwiderung zuzischen. Aber Egwene hinderte sie, indem sie die Hand hob.
Da gab es etwas, das Egwene in Betracht gezogen hatte, etwas Dreistes. Aber es war angebracht. Das wusste sie. Sie konnte es fühlen. »Die Rote Ajah ist in Ungnade?«, fragte sie Tesan leise.
Die Weiße nickte; ihre vielen Zöpfe strichen über ihre Wange. »Um die Roten braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen«, sagte sie mit ihrem hellen tarabonischen Akzent. »Nach Elaidas Verschwinden haben sie sich in ihr Quartier zurückgezogen. Die Sitzenden hier hatten Sorge, dass die Roten schnell neue Sitzende wählen und sie herschicken würden. Ich glaube, ein paar … kurze und bündige Botschaften vom Saal der Burg reichten aus, um sie einzuschüchtern.«
»Und Silviana Brehon? Ist sie noch immer eingekerkert?«
»Soweit ich weiß ja, Mutter«, sagte Tesan, vergaß sich kurz und benutzte den Titel, obwohl Egwene noch nicht formell vom Saal erhoben worden war. »Sorgt Euch nicht. Leane wurde freigelassen. Wir haben sie nach draußen zu den anderen Rebellen gebracht, die Eure Vergebung erwarten.«
Egwene nickte nachdenklich. »Lasst Silviana sofort herbringen, in den Saal den Burg.«
Tesan runzelte die Stirn. »Mutter, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist …«
»Tut es einfach«, zischte Egwene, dann wandte sie sich dem Saal zu. »Jemand, der ergeben im Licht wandelt«, verkündete sie mit fester Stimme.
Saerin entspannte sich. »Wer tritt vor den Saal der Burg?«
»Jemand, der bescheiden im Licht wandelt«, erwiderte Egwene. Sie starrte jede Sitzende nacheinander an. Eine feste Hand. Sie würde streng sein müssen. Sie brauchten Führung.
»Wer tritt vor den Saal der Burg?«, kam Saerin zum Ende.
»Jemand, der auf den Ruf des Saals hin kommt«, sagte Egwene, »ergeben und bescheiden im Licht wandelt und nur darum bittet, den Willen des Saals annehmen zu dürfen.«
Die Zeremonie ging weiter, jede Sitzende entblößte sich bis zur Taille, um zu beweisen, dass sie eine Frau war. Egwene tat das Gleiche und errötete kaum bei dem Gedanken an Gawyn, der offensichtlich geglaubt hatte, sie würde ihn zu der Zeremonie mitnehmen.
»Wer erhebt sich für diese Frau?«, fragte Saerin, nachdem sich die Sitzenden wieder angekleidet hatten. Egwene musste bis zur Taille nackt bleiben, und die Brise, die durch die zerstörte Wand eindrang, fühlte sich kühl auf ihrer Haut an. »Und verpflichtet sich ihr, Herz für Herz, Seele für Seele, Leben für Leben?«
Yukiri, Seaine und Suana standen schnell auf. »Ich verpflichte mich ihr«, verkündete jede von ihnen.
Beim ersten Mal war Egwene bei dieser Zeremonie entsetzt gewesen. Bei jedem Schritt hatte sie befürchtet, einen Fehler zu machen. Schlimmer noch, sie hatte befürchtet, dass sich alles als Fehler oder List herausstellte.
Die Furcht war verschwunden. Als die rituellen Fragen gestellt wurden – als Egwene drei Schritte vortrat und auf dem glatten Boden niederkniete, der aufgrund Elaidas Befehl nur mit sechs Farben neu gestrichen worden war, die alle der Flamme von Tar Valon entsprangen –, durchschaute sie den Pomp und betrachtete den Kern des Geschehens. Diese Frauen wurden von schrecklicher Angst beherrscht. So wie damals die Frauen in Salidar. Der Amyrlin-Sitz war eine Macht der Stabilität, und sie griffen danach.
Warum hatte man gerade Egwene gewählt? Anscheinend beide Male aus dem gleichen Grund. Weil sie die Einzige war, auf die sich alle hatten verständigen können. Da waren lächelnde Gesichter in der Gruppe. Aber es war das Lächeln von Frauen, die es geschafft hatten, Rivalinnen vom Sitz fernzuhalten. Entweder das oder das Lächeln von Frauen, die erleichtert waren, dass irgendjemand vortrat und die Führung übernahm. Und vielleicht lächelten einige auch, weil sie sich nicht auf den Sitz setzen mussten. In jüngerer Vergangenheit war er voller Gefahren, Zwietracht und zwei dramatischen Tragödien gewesen.
Damals in Salidar hatte Egwene die Frauen für Närrinnen gehalten. Jetzt war sie erfahrener und hoffentlich auch weiser. Ihr war bewusst, dass sie keine Närrinnen gewesen waren. Sie waren Aes Sedai – die ihre Furcht durch übertriebene Vorsicht zu verbergen versucht hatten. Und zugleich durch Unverschämtheit. Die jemanden auserwählt hatten, bei dem es ihnen egal war, ihn scheitern
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