Accelerando
die hummer
MANFRED IST MAL WIEDER UNTERWEGS, UM FREMDEN ZU Reichtum zu
verhelfen.
Es ist ein warmer, sommerlicher Dienstag, und er steht mit einer
Datenbrille vor den Augen auf der Plaza vor der Centraal Station, mitten im grellen Sonnenlicht, das von der Gracht reflektiert
wird. An beiden Ufern haben sich schwatzende Touristengrüppchen
gesammelt, während Motorroller und Radfahrer in
selbstmörderischem Tempo vorbeiflitzen. Der Platz riecht nach
Wasser, Schmutz, heißem Metall und den kalten, schwefelhaltigen
Ausdünstungen von Katalysatoren; im Hintergrund bimmeln
Straßenbahnen, über seinem Kopf fliegt ein Vogelschwarm.
Er blickt nach oben, fängt eine der Tauben im Bild ein,
speichert es ab und leitet es an sein Weblog weiter, um zu zeigen,
dass er angekommen ist. Ihm fällt auf, dass die Bandbreite hier
gut ist. Und nicht nur die Bandbreite, sondern die ganze Szenerie.
Jetzt schon gibt ihm Amsterdam das Gefühl, willkommen zu sein,
obwohl er gerade erst dem Zug aus Schiphol entstiegen ist. Der
schwungvolle Optimismus einer anderen Zeitzone, einer neuen Stadt hat
ihn angesteckt. Falls diese Stimmung anhält, wird irgendjemand
da draußen tatsächlich sehr reich werden.
Er fragt sich, wer es sein wird.
Auf dem Parkplatz vor der Brouwerij ’t IJ sitzt
Manfred auf einem Hocker, sieht zu, wie die mit pneumatischen
Gelenken versehenen Busse vorbeifahren, und trinkt 0,3 Liter des
sauren Gueuze, das ihm den Mund zusammenzieht. In irgendeinem
Winkel des Brillendisplays quasseln Kanäle und decken ihn
fortwährend mit komprimierten Informationen –
ausgewählten Pressemitteilungen – ein. Sie quengeln und
schlängeln sich aufdringlich in den Vordergrund, konkurrieren um
seine Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite des Platzes stehen ein
paar Punks bei zerbeulten Mopeds herum, lachen und unterhalten sich.
Mag sein, dass es Einheimische sind, eher aber Herumtreiber, die das
Magnetfeld von Toleranz, das Holland wie ein Pulsar quer durch Europa
ausstrahlt, nach Amsterdam gezogen hat. Auf dem Kanal tuckert ein
Boot mit Touristen vorbei; die Flügel einer riesigen
Windmühle werfen lange, kühle Schatten über die
Straße. Die Windmühle ist eine Anlage zur Drainage, sie
verwendet Windkraft dazu, Land trocken zu legen. Mit Methoden des
sechzehnten Jahrhunderts wird hier Energie dazu eingesetzt, neuen
Lebensraum zu gewinnen. Manfred wartet auf die Einladung zu einer
Party, auf der er sich mit einem Mann treffen wird, um mit ihm
über den Austausch von Energie gegen Lebensraum nach Methoden
des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu reden. Außerdem kann er
dabei seine persönlichen Probleme, wie er hofft,
verdrängen.
Er ignoriert alle Meldungen über eingehende Nachrichten und
genießt diese Zeit spärlicher Datenübertragungen und
starker Sinnesempfindungen, erfreut sich seines Biers und der Tauben,
bis eine Frau auf ihn zugeht und ihn anspricht: »Manfred
Macx?«
Er blickt auf. Die Frau ist ein professioneller Fahrradkurier;
ihre windgestählten, geschmeidigen Muskeln stecken in einer
Kleidung, die eine einzige Hommage an die Polymertechnologie
darstellt: neonblaues Lycra, honiggelbes Karbonat mit hellen Tupfern
von Anti-Kollisions-LEDs, dicht gefüllte Airbags. Bestürzt
über ihre verblüffende Ähnlichkeit mit Pam, seiner
Ex-Verlobten, zögert er kurz, als sie ihm eine Schachtel
hinstreckt.
»Ich bin Macx«, sagt er schließlich und zieht das
linke Handgelenk unter ihrem Strichcodeleser hindurch. »Von wem
kommt das?«
»FedEx.« Ihre Stimme klingt anders als die von Pam. Sie
wirft ihm die Schachtel in den Schoß. Gleich darauf setzt sie
über die niedrige Mauer, steigt auf ihr Fahrrad, während
ihr Handy schon wieder bimmelt, und verschwindet in einer Wolke von
Staub und sonstigen Emissionen.
Manfred dreht die Schachtel herum: Darin steckt ein Wegwerf-Handy,
wie es in jedem Supermarkt gegen Bargeld zu bekommen ist –
billig, nicht zurückzuverfolgen und effizient. Mit diesem Handy
kann man sogar auf Konferenzschaltung gehen, deshalb ist es ein
ideales Telefon für Schnüffler und Gauner in aller
Welt.
Als die Schachtel ein Läuten von sich gibt, reißt
Manfred die Verpackung auf und zieht das Handy leicht verärgert
heraus. »Ja? Wer ist dran?«
Die Stimme am anderen Ende hat einen harten russischen Akzent.
Angesichts der Tatsache, dass in diesem Jahrzehnt schon überall
billige Online-Übersetzungsdienste verfügbar sind, klingt
die Stimme geradezu wie eine Parodie. »Manfred. Erfreut,
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