Das Reich des Lichts
Suchen wir also weiter … Übrigens, jemand hat mir gesagt, dass die Leute hier ihr Gedächtnis verlieren. Sie, Señor, scheinen sich aber auch nach tausend Jahren noch an alles zu erinnern …“
„Manche von uns bewahren ihr Gedächtnis. Das muss etwas mit dem Wunsch nach Rache zu tun haben. Es ist wie eine Strafe. Je mehr du auf Rache sinnst, desto besser erinnerst du dich an dein früheres Leben. Glaube ich jedenfalls … Obwohl, sicher bin ich mir nicht.“
„Rache? An wem wollen Sie sich denn rächen?“
„Ich wurde von Demónicia ermordet, und bevor ich sie nicht finde, werde ich nicht vergessen können.“
„Demónicia muss irgendwo hier sein …“, sage ich.
„Sie war hier, ist aber wieder weg. Jetzt befindet sie sich in der Welt der Lebenden.“
„Ich glaube, Sie irren sich. Arquimaes hat sie getötet.“
„Es ist, wie ich sage: Sie befindet sich in der Welt der Lebenden. Ich selbst habe sie fortgehen sehen. Aber sie wird zurückkommen, davon bin ich überzeugt.“
***
I NZWISCHEN HABE ICH jedes Zeitgefühl verloren.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon hier bin. Ich kann auch nicht sagen, wann ich hier angekommen bin. Und von Metáfora habe ich auch noch keine einzige Spur gefunden. Nichts.
„Es ist zum Verzweifeln“, sage ich. „Die Zeit vergeht, und wir sind noch keinen Schritt weiter.“
„Die Zeit hat hier keine Bedeutung“, entgegnet Ritter Eisenfaust. „Wenn du erst mal so lange hier bist wie ich, wirst du aufhören, dir darüber Gedanken zu machen.“
„Was erzählen Sie da? Ich will so schnell wie möglich wieder fort von hier! Sobald ich sie gefunden habe …“
„Ja, natürlich. Das sagen alle, wenn sie hier ankommen. Sie glauben, sie sind nur vorübergehend hier und kehren bald wieder in die Welt der Lebenden zurück. Mir ging das nicht anders.“
„Aber ich bin nicht tot!“
„Woher weißt du das?“
„Na ja … also … Ich bin hierhergekommen, um Metáfora zu suchen. Die ist nämlich tatsächlich gestorben. Aber ich, ich lebe noch! Sie ist erschossen worden, aber mir ist nichts passiert.“
„Angeblich wurde Arturo Adragón tot geboren. Bist du auch tot geboren?“
„Ich glaube, ja … Aber ich wurde wieder lebendig.“
„Da hast du’s! Du bist einer von uns. Du bist tot, Arturo.“
„Erzählen Sie keinen Unsinn! Ich lebe!“
„Natürlich, natürlich …“
Der See ist von grauen Felsen übersät. Sie bilden kleine, von Gespensterwesen bevölkerte Inseln. Auf einer von ihnen sitzt eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, das zu schlafen scheint. Sie kommt mir bekannt vor, aber ich bin mir nicht sicher. Alles ist so verwirrend hier!
„Am besten, wir fragen die Frau da“, schlage ich vor. „Vielleicht weiß sie etwas.“
„Wahrscheinlich nicht, aber versuchen kannst du’s ja mal“, sagt Eisenfaust.
Ich nähere mich dem Felsen.
„Señora, können Sie mir sagen, ob hier ein blondes Mädchen vorbeigekommen ist?“, frage ich die Frau.
Sie schaut mich mit unendlich zärtlichen Augen an.
„Ich glaube, ich hatte früher auch einmal goldene Haare“, antwortet sie und seufzt. „Aber das ist schon sehr, sehr lange her … Wie heißt deine Freundin?“
„Metáfora. Sie ist fünfzehn und sehr hübsch – wie Sie.“
„Ein schöner Name! Ich hoffe, du findest sie und kannst sie von hier fortbringen.“
„Würden Sie diesen Ort nicht auch gerne verlassen?“
„Ich kann nicht. Ich muss bei meinem Kind bleiben. Ich kann es nicht allein lassen, es ist noch so klein.“
„Das tut mir leid“, sage ich.
„Du suchst jetzt besser deine Freundin. Ich darf nicht so viel sprechen, sonst wecke ich es auf.“
„Vielen Dank, Señora“, sage ich und wende mich von ihr ab.
Aber sie hört mich schon nicht mehr. Sie drückt ihr Baby an sich und wiegt es in den Armen. Als ich mich noch einmal zu ihr umdrehe, habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Ich spüre einen Kloß im Hals. Gleich breche ich in Tränen aus.
„Hast du schon auf der Brücke nachgesehen?“, fragt mich mein Begleiter. „Da sind Leute, die auf die Erlaubnis warten, den See zu überqueren. Vielleicht findest du sie ja dort.“
„Wie gelange ich zu der Brücke?“, frage ich.
„Wenn du willst, komme ich mit“, bietet mir Eisenfaust an.
„Wo ist die Brücke?“
„Auf der anderen Seite des Sees.“
„Bringen Sie mich bitte dorthin.“
***
D IE B RÜCKE AUS grauem Naturstein führt auf eine weite Ebene mit nur wenigen Felsen. Viele menschliche Wesen
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