Das verschwundene Kind
des bedrohlichen Türspalts. In dem Moment ertönte ein dumpfer Laut, der sie in der Bewegung einfrieren ließ. Er ist da!, schoss ihr durch den Kopf. Das Geräusch war aus dem Badezimmer gekommen. Das befand sich gegenüber der Garderobe. Sie würde niemals an diese Jacke gelangen können, ohne von ihm gesehen zu werden. Jetzt hörte sie es deutlich. Flaschen klirrten. Plastikfolie knisterte. Er war hier! Sie musste weg! Sie wandte sich um. Neben der Tür befand sich das Schlüsselbrett. Einige Schlüsselbunde hingen dort. Welcher war der ihre? In der Dunkelheit des Flures würde sie das nicht schnell genug feststellen können. Ihre behandschuhten Finger umfassten flink und lautlos einen Schlüsselbund nach dem anderen und ließen sie alle in ihre Tasche gleiten, bis die Haken abgeräumt waren. Dann schlich sie davon, mit der beunruhigenden Gewissheit, dass sie wegen der Jacke ein andermal zurückkehren musste.
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Montag, der 8. Oktober
W ie eine hingeworfene Puppe lag die Tote auf dem Teppich, bäuchlings, mit verrenkten Gliedmaßen, den Kopf zur Seite gedreht. Langes, in schweren Wellen fallendes Haar verbarg ihr Gesicht. An ihrem Hals schimmerte zwischen den dunkelbraunen Haarsträhnen ein wenig Haut hervor, grau und zart geädert wie Marmor. Es war die Farbe toter Haut. Hauptkommissar Lars Stephan war vorsichtig näher getreten, um sich einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen. Ein Blick hatte genügt, um zu wissen, dass für die vor ihm liegende Frau jede Hilfe zu spät kam. Die Spurensicherung musste her, ebenso ein Gerichtsmediziner zur Bestimmung von Todesart und -zeitpunkt.
Situationen wie diese hatte Lars Stephan schon häufig erlebt, schließlich blickte er auf gut fünfzehn Dienstjahre zurück. Dennoch war er erleichtert, dass es sich um einen unblutigen Tatort handelte. Mit scheinbar kühler Miene musterte er aufmerksam den Körper der Toten. Jede Kleinigkeit war jetzt wichtig. Kein Tatortfoto konnte den Eindruck wiedergeben, den sich ein routinierter Profi wie er in den ersten Minuten verschaffte und einprägte. Stephan rümpfte ein wenig die Nase, was einige der Umstehenden veranlasste, es ihm nachzutun. Ein Hauch des unverkennbaren, den Tod begleitenden Geruchs wurde wahrnehmbar. »Sie ist nicht erst seit heute Morgen tot«, sagte er leise. Die anderen nickten bestätigend. Stephan nestelte in der Tasche seines Lederblousons nach den Einmalhandschuhen und begann, sie sich überzustreifen. Dabei war sein Blick weiter von den Beinen bis zum Oberkörper der Toten gewandert. Ein wohlgeformtes, bleiches Ohr ragte zwischen den dunklen Haarsträhnen hervor. Es war geziert von einem winzigen Brillanten, der bei der kleinsten Bewegung des Betrachters winzige Lichtfunken produzierte und damit in der Stille und Reglosigkeit des Moments eine beklemmende Lebendigkeit demonstrierte. Stephans Blick hing wie hypnotisiert an diesem Funkeln. Seine Miene schien plötzlich aus dem sicheren Gleis der Berufsroutine zu entgleiten. Jede professionelle Distanz vergessend, ging er neben der Toten auf die Knie und griff ihr in das volle Haar.
»Maren! Das darf nicht wahr sein«, flüsterte er, unhörbar für seine Kollegen. Er konnte nicht glauben, was er sah. Aus seiner Erinnerung tauchte das Bild einer dunkelhaarigen Frau auf, die sich mit einer lässigen Handbewegung das lange, braune Haar aus dem Gesicht strich und damit seinen Blick auf das Glitzern ihres Ohrschmucks lenkte. Ein scheues Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Auf ihn hatte es früher immer geheimnisvoll gewirkt. Es hatte sich im Schimmer ihrer dunklen Augen, in der Haltung ihres Kopfes und irgendwo in ihren Mundwinkeln versteckt. Manchmal auch im Klang ihrer Stimme.
Ganz sicher war es dieses Lächeln gewesen, mit dem sie ihn bei ihrer ersten Begegnung, damals vor drei Jahren, in ihren Bann gezogen hatte. Die Beziehung zu Maren, sofern man das überhaupt so nennen konnte, hatte nur wenige Wochen gedauert. Ein vorsichtiges umeinander Herumschleichen war es gewesen. Der Anfang von etwas. Und dann hatte sie sich plötzlich entschlossen, zu ihrem Ex-Mann, einem Banker, zurückzukehren. Die Kränkung darüber nagte auch jetzt noch an ihm. Immer, wenn sie in Gedanken vor ihm aufgetaucht war, hatte er ihr Bild mit aller Kraft zur Seite geschoben. Maren, du bist für mich gestorben, hatte er sich dann gesagt. Jetzt war Maren tot, und seine Verwünschungen waren auf grausame Weise Realität geworden. Selbstvorwürfe stiegen in ihm auf. Die Kollegen
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