Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Prophezeiung glauben, aber sie nickte. Welch andere Begründung sollte sie sonst dafür finden, dass sie tagtäglich Männer und sogar ihre Söhne in die Schlacht schickte.
Zeitgleich in Tegris, der Wüstenstadt
Der kahle Raum beherbergte ein Bett, einen Stuhl und einen Tisch mit Schüssel und Wasserkrug und war dafür gerade groß genug. Die Nische in Caitlins Gemächern auf der Nebelinsel, in der ihre Kleider hingen, war mehr als doppelt so groß.
Prinzessin Caitlin fuhr hoch, stieß einen unterdrückten Schrei aus, sah sich hektisch um, konnte aber in der völligen Schwärze nichts erkennen und schnappte nach Luft, weil sie kurzzeitig das Atmen vergessen hatte. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Herz raste, und das Nachthemd klebte ihr auf der Haut.
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie erkannte die Bettpfosten und das Fenster, ließ sich tiefer in das klumpige Kissen sinken und seufzte. Sie wollte nicht an ihren so häufig wiederkehrenden Alptraum denken, aber dessen Bilder drängten sich ihr auf: Männer mit Tierfellen, die lachten und Körper auf einen Scheiterhaufen warfen … der Scheiterhaufen, der nicht aus Reisig bestand, sondern aus Menschenleibern … der Ring mit dem Wappen, der ihr vor die Füße rollte … das Siegel darauf, das ein geflügeltes Schwert zeigte … ihre eigene Hand, die danach griff … die verbrannte Kinderhand, die ihr zuvorkam, … und die plötzlich erwachsene Gestalt, die in der Dunkelheit verschwand. Doch diesmal loderte das Feuer hell auf, und deutlich sah sie das lange, blonde Haar des Ringräubers.
Caitlin schüttelte sich heftig, schlüpfte aus dem Bett, ging zu dem winzigen Fenster, rieb sich die Arme und schaute hinaus. So schwarz und klar wie in der Wüste sei der Himmel nirgendwo, hatte Ruth behauptet. Und tatsächlich schienen die glitzernden Sterne zum Greifen nah. Die Prinzessin atmete tief und langsam durch, um wieder ruhiger zu werden, und versuchte, Sternbilder zu erkennen. Die in Form einer Waage angeordneten Sterne der Heimstatt der Schicksalsgöttin zogen ihren Blick an. Wie üblich bat sie Haidar um eine unbeschwerte Zukunft. Doch heute kicherte sie unwillkürlich und bat auch noch um einen schönen, geistreichen und zärtlichen Prinzen.
Priesterin Hylia hatte einen Sommer außerhalb der Nebelinsel verbracht. Nächtelang hatte sie ihr hinterher trotz des Verbots der Königin Liebesgeschichten erzählt. Hylia hatte sogar zugegeben, sich auch verliebt zu haben, hatte aber nicht preisgegeben, wer der Glückliche gewesen war. Der Mann hatte nicht einmal von ihrer Liebe erfahren, da eine Verbindung für eine Priesterin ohnehin nie in Betracht gekommen wäre. Also war es ohne jede Bedeutung gewesen. Aber Caitlin hatte sich seit dieser Zeit immer wieder gefragt, wie sich Verliebtsein anfühlte. Ihre Dienerin Ruth hatte sie darüber hinaus auf der Fahrt mit Geschichten über die rauschenden Feste der weltlichen Könige unterhalten. Zwar hatte sie – damals noch Zofe Königin Ayalas – immer abseits gestanden, aber die Tänze und die Heiterkeit der Feiernden hatten sie auch beim bloßen Zuschauen begeistert.
Die tumben Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, hatten Caitlin durchweg nicht gefallen. Nie hätte sie mit einem dieser Herren tanzen wollen, … aber ein Nachfahre der Alten Könige musste doch etwas Besonderes sein. Ruth hatte es mit ihren Geschichten jedenfalls geschafft, Neugierde zu wecken und dieser blöden Reise eine gute Seite abzugewinnen.
Caitlin seufzte noch einmal träumerisch und versuchte dann, Verbindung zu ihrer Mutter aufzunehmen. Die Königin hatte sie schließlich gebeten, ihr mitzuteilen, wenn sie in diesem Traum etwas anderes sah, und die Prinzessin verschwendete keinen Gedanken daran, dass es vielleicht nicht freundlich war, ihre Mutter mitten in der Nacht mit der unglaublichen Neuigkeit zu überraschen, dass der Dieb des Ringes blond war. Warum sollten andere schlafen, wenn sie selbst keinen Schlaf fand?
Sie hätte sich aber doch über Ayalas Reaktion gewundert. Denn die hatte sich nicht im Geringsten geärgert, sondern umgehend den Priesterinnenrat zusammengerufen. Schon wenig später hockten dreizehn Frauen in Nachthemden, mit verschlafenen Gesichtern und wirren Haaren um einen Tisch herum, auf dem ein Stück Leinwand lag, das die da’Kandar-Familie zeigte.
Anwärterinnen huschten schweigend herum, entzündeten Kerzen, stellten Schalen mit Früchten oder Gebäck auf den runden, auf Hochglanz
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