Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
gab ihr die Geschwindigkeit vor. Ohne überhaupt eine andere Möglichkeit zu haben, kletterte sie weiter und weiter, durch Schneefall, Sturm und Wolken. Sie sah kaum die Bolzen, sondern erwischte sie mehr durch Zufall, während sie am Eis hochkrabbelte. Ihre Füße hingen oft in der Luft, fanden kaum noch Löcher, während sich das Seil um ihre Taille schnürte und schmerzte. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als Rhonan sie über den Rand zog. Er drückte sie kurz an sich und half ihr, sich im Eingang der Höhle hinzusetzen. Beiden fehlte die Kraft, auch nur ein Wort zu sagen. Bebend rollte Caitlin sich zusammen und beobachtete dumpf ihren Begleiter, der bereits das Seil nach unten warf und es nach kurzer Zeit Hand über Hand nach oben zog. Er ächzte und stöhnte, zog aber immer weiter, obwohl das Seil sich rot färbte, wo immer er es ergriff.
Caitlin hätte ihm gern geholfen, konnte sich aber nicht mehr bewegen. In ihrem Kopf hämmerte es, als wollte das Blut ihren Schädel sprengen, sie zitterte und fror und konnte nicht einmal mehr die Hand heben, um sich Eiskristalle aus dem Gesicht zu wischen.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis Gideon sich endlich keuchend über den Rand hangelte. Der Verianer war kaum auf dem Plateau, als der Prinz umfiel, einfach zur Seite wegkippte.
Gideon war so restlos erschöpft, dass er schon Mühe hatte zu atmen. Er nahm seine Umgebung nicht mehr wahr, sackte zusammen und schlief ein.
Caitlin wollte zu Rhonan kriechen, schaffte es aber nicht mehr. Auf halber Strecke fiel sie in den Schnee und blieb liegen.
Ein Augenpaar lugte aus dem Dunkel der Höhle.
24. Kapitel
D erea saß mit nachdenklicher Miene an seinem Schreibtisch und trommelte mit den Fingern darauf herum. Lucio saß ihm gegenüber und gähnte. Zwar war es noch Vormittag, und er hatte gut geschlafen, aber seit geraumer Zeit sah er nur eine gerunzelte Stirn vor sich, die mal von der Sonne beschienen wurde und mal im Schatten lag. Von draußen drangen Lachen, Reden, Schimpfen, Meckern, Muhen und Hämmern in den Raum, aber hier drinnen stand die Zeit still, denn Derea dachte nach. Das konnte blitzartig gehen oder dauern. Das Ergebnis jedoch fiel in beiden Fällen gleich aus: unerwartet!
Die Tür knarrte, und Remo stapfte ins Zimmer. Auf ein Handzeichen Lucios hin setzte er sich neben seinen Kameraden und flüsterte für ihn leise, für andere ziemlich laut: »Ist er immer noch nicht fertig? Wir müssen aufpassen, dass er was isst.«
»Er hat gut gefrühstückt.«
»Dann ist es ja gut.«
Derea begann, sein Kinn zu reiben, und seine Adjutanten atmeten auf und erklärten wie aus einem Mund: »Gleich ist es so weit.«
Der Hauptmann hielt auch mitten in der Bewegung inne, sah Remo an und bellte: »Wie viele?«
Der war leicht überfordert. »Männer? Beschwerden? Wie viele was?«
»Wie viele haben sie zurückgelassen? Tausend?«
Remo nickte. »Ungefähr, höchstens zwölfhundert! Die Belagerung ist abgeblasen, eine Eroberung Ten’Shurs scheint nicht geplant zu sein. Sie wollen nur noch verhindern, dass wir die Stadt verlassen.«
»Geschütze?«
»Keine mehr! Sie wollen ja nicht mehr rein.«
»Beobachtungstürme?«
Remo grinste, dass seine Zähne blitzten. »Sind beim nächtlichen Angriff der Adler in Flammen aufgegangen. Die neuen sind noch nicht fertig. Es fehlt Holz. Die verkohlten Stämme aus dem ehemaligen Wäldchen können sie nicht benutzen. Nun müssen sie weit laufen. Welch ein Jammer!«
»Gut, gut!« Derea sprang unvermittelt auf und wanderte durchs Zimmer. Die Stirn war immer noch in Falten gelegt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Camora zieht unverrichteter Dinge seine Truppen ab. Das heißt, er weiß, dass seine Westattacke fehlgeschlagen ist, aber er weiß auch, dass unsere Truppen weit verstreut sind. Ten’Shur ist unwichtig. Er will die Reichsstadt und die Burg der Königin. Wenn er schnell genug ist, kann ihm das nach wie vor gelingen. Canon hat zurzeit nicht viel mehr als siebenhundert Gardisten. Damit kann er Mar’Elch nie im Leben verteidigen.«
Die Worte waren düster, aber er strahlte seine Adjutanten mit funkelnden Augen an. »Bleibt nur eins, meine Freunde, wir müssen die Horden besiegen und ihm helfen.«
Lucio half von Natur aus immer gern, ließ das aber mal außer Betracht und hüstelte, um Dereas Aufmerksamkeit zu erlangen. Der schien wieder in Gedanken, und Lucio hustete so laut, dass es schon wie Würgen oder Rotzen klang. Das brachte Erfolg.
»Hast du was am
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