Deer Lake 02 - Engel der Schuld
Körper gezehrt. Sie war von Natur aus schlank, aber jetzt sah sie halb verhungert aus. Während der ganzen Untersuchung war sie neben dem Tisch stehengeblieben, hatte Joshs Hand gehalten, sein Gesicht angeschaut, sich immer wieder vorgebeugt, um ihn auf die Stirn zu küssen. Sie merkte offenbar nicht, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Mitch holte ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche, drückte es ihr in die freie Hand und fragte sich, wo zum Teufel Paul blieb.
Er hätte jetzt dasein müssen, für Josh, für Hannah. Hannah hatte versucht, ihn in seinem Büro anzurufen, wo er jetzt übernachtete, und nur den Anrufbeantworter bekommen. Mitch hatte einen Streifenwagen hingeschickt. Fast zwei Stunden später gab es immer noch keine Spur von Paul. Und morgen, sobald er im Mittelpunkt des Interesses der Presse stand, würde Paul bestimmt der Polizei die Schuld dafür geben, daß man ihn nicht sofort zu seinem Sohn gebracht hatte. Josh war während der leidigen Prozedur absolut still gewesen, hatte nicht einmal einen Ton der Angst oder des Schmerzes von sich gegeben. Er beantwortete keine Fragen.
Mitch hoffte, seine Schweigsamkeit wäre nur ein vorübergehender Zustand. In diesem Fall gab es bereits zu viele Fragen und zu wenige Antworten. Joshs Wiederauftauchen war natürlich ein Grund zum Feiern, dennoch warf es Fragen auf. Garrett Wright saß in seiner Gefängniszelle. Wer also hatte Josh nach Hause gebracht? Hatte Wright einen Komplizen? Die wenigen Hinweise, die sie hatten, deuteten auf Olie Swain. Olie hatte ein paar von Wrights Kursen in Harris besucht. Olie besaß den Lieferwagen, auf den die Zeugenbeschreibung paßte. Aber die Durchsuchung des Wagens hatte nichts ergeben, und Olie Swain war tot.
»Keine Anzeichen für eine Penetration«, sagte Ulrich leise, mit einem Auge bei Josh, der scheinbar im Sitzen schlief. »Keine Rötung, keine Risse.«
»Wir werden sehen, was die Abstriche zeigen«, sagte Mitch.
»Ich nehme an, sie werden sauber sein.«
Der Arzt hatte die bei vermuteter Vergewaltigung vorgeschriebene Standarduntersuchung vorgenommen und Josh buchstäblich von Kopf bis Fuß nach Anzeichen für sexuelle Belästigung untersucht. Orale und rektale Abstriche waren gemacht worden, die man nun auf Samenflüssigkeit untersuchen würde. Mitch hatte der Untersuchung pflichtgemäß beigewohnt und wie ein Habicht aufgepaßt, damit er ja nichts ausließ, da er sich sehr wohl bewußt war, daß der Arzt mit solchen Dingen nur wenig praktische Erfahrung hatte. Eine neue Herausforderung für die Polizeiarbeit außerhalb des Stadtbereichs, wo Vergewaltigung kein häufiges Verbrechen war. Das Krankenhaus von Deer Lake besaß nicht einmal eine Wood-Lampe – eine fluoreszierende Lampe, mit der man die Oberfläche der Haut nach Spuren von Sperma absuchen konnte. Obwohl die Wood-Lampe in Joshs Fall wahrscheinlich sowieso nichts genutzt hätte. Der Junge war anscheinend gründlich geschrubbt worden und roch nach Seife und Shampoo. Beweise, die man möglicherweise hätte finden können, waren buchstäblich in den Ausguß gekippt worden.
»Was ist mit seinem Arm? Glaubst du, sie haben ihn betäubt?«
»Auf jeden Fall war in dieser Vene eine Nadel«, sagte Ulrich und zog sanft Joshs Arm zu sich heran, um sich ein zweites Mal die Druckstellen und die leichten Verfärbungen der Haut in der Armbeuge anzusehen. »Wir müssen auf die Laborbefunde der Blutuntersuchung warten.«
»Sie haben Blut abgenommen«, murmelte Hannah und strich mit der Hand über die zerzausten braunen Locken. »Ich hab's Ihnen gesagt, Mitch, ich hab's gesehen.«
Er sah sie mit undurchschaubarer Miene an, die ihr sagte, daß er sich nur aus Höflichkeit eines Kommentars enthielt. Wahrscheinlich glaubte er, sie sei endgültig durchgedreht. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Dem Gefasel von Leuten, die behaupteten, Dinge im Traum gesehen zu haben, hatte sie nie viel Beachtung geschenkt. Wenn man sie gebeten hätte, eine Diagnose über eine Frau in ihrer eigenen Lage zu stellen, hätte sie wahrscheinlich gesagt, sie sei überspannt und ihr Verstand versuche jetzt, den unerträglichen Streß zu kompensieren. Aber in ihrem Herzen wußte sie, was sie Freitag nacht in diesem Traum gesehen hatte: Josh, wie er allein dastand, an sie dachte, in einem gestreiften Schlafanzug, den sie nie zuvor gesehen hatte. Es war derselbe Schlafanzug, den Mitch Holt zur Untersuchung ins BCA-Labor geschickt hatte.
Mitch beugte sich auf Joshs Augenhöhe hinunter.
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