Delirium
Ich weiÃ, dass du denkst, wir würden dich nicht verstehen. Aber ich verstehe dich sehr wohl.« Sie bricht ab und starrt in das leere Glas. »Ich war genau wie du. Ich kann mich noch erinnern: diese Gefühle, diese Wut und Leidenschaft, der Eindruck, dass man ohne das nicht leben kann, dass man lieber sterben würde.« Sie seufzt. »Aber glaub mir, Lena. Das liegt nur an der Krankheit. In ein paar Tagen wirst du es verstehen. Das alles wird dir wie ein Traum vorkommen. Mir ist es wie ein Traum vorgekommen.«
»Und, bist du jetzt glücklicher? Bist du froh, dass du es getan hast?«, frage ich sie.
Vielleicht interpretiert sie meine Frage als Zeichen dafür, dass ich zuhöre und ihr Aufmerksamkeit schenke. Auf jeden Fall lächelt sie. »Sehr«, sagt sie.
»Dann bist du einfach nicht wie ich«, flüstere ich heftig. »Du bist überhaupt nicht wie ich.«
Rachel öffnet den Mund, um noch etwas zu sagen, aber in diesem Moment kommt Carol an die Tür. Ihr Gesicht ist rot und erhitzt und ihre Haare stehen wild ab, aber als sie spricht, klingt sie ruhig. »Alles in Ordnung«, sagt sie leise zu Rachel. »Es ist alles geregelt.«
»Gott sei Dank«, erwidert Rachel. Dann sagt sie grimmig: »Aber sie wird nicht freiwillig gehen.«
»Tun sie das je?«, fragt Carol trocken. Dann verschwindet sie wieder.
Carols Tonfall hat mir Angst gemacht. Ich versuche mich auf die Ellbogen zu stützen, aber meine Arme fühlen sich an, als wären sie aus Pudding. »Was ist geregelt?«, frage ich, überrascht, dass meine Stimme so nuschelig klingt.
Rachel sieht mich einen Moment an. »Ich hab dir doch gesagt, wir wollen nur, dass du immun wirst«, sagt sie unbewegt.
»Was habt ihr geregelt?« Panik erfüllt mich und wird noch verstärkt durch die Schwere, die mich gleichzeitig überkommt. Ich muss mich anstrengen, die Augen offen zu halten.
»Deinen Eingriff.« Das ist Carol. Sie ist gerade zurück ins Zimmer getreten. »Wir haben es geschafft, ihn vorzuverlegen. Gleich Sonntagmorgen wirst du geheilt. Danach gehtâs dir hoffentlich wieder gut.«
»Unmöglich.« Ich muss würgen. Das sind keine achtundvierzig Stunden mehr. Keine Zeit, um Alex zu benachrichtigen â keine Zeit, um unsere Flucht zu planen. Keine Zeit, um irgendetwas zu unternehmen. »Das mach ich nicht.« Meine Stimme klingt gar nicht nach meiner eigenen: Es ist ein langes Ãchzen.
»Eines Tages wirst du es verstehen«, sagt Carol. Rachel und sie kommen auf mich zu und dann sehe ich, dass sie Nylonschnur in den Händen halten. »Eines Tages wirst du uns dankbar sein.«
Ich will um mich schlagen, aber mein Körper ist unglaublich schwer und vor meinen Augen verschwimmt alles. Wolken ziehen durch meinen Verstand. Ich denke: Sie hat mich also doch angelogen mit dem Aspirin , dann denke ich: Aua , als etwas Scharfes tief in meine Handgelenke schneidet, und dann denke ich gar nichts mehr.
s e chsundz w anzig
hier ist das tiefste geheimnis, das keiner kennt
(hier ist die wurzel, die knospe der knospe
und der himmel des himmels eines baums genannt leben; der wächst
noch höher als seele hoffen, als geist verbergen kann)
und dies ist das wunder, das die sterne in bahnen hält
ich trage dein herz (ich trage es in meinem herzen)
Aus: »ich trage dein herz bei mir«, ein Gedicht von
E.E. Cummings, verboten, siehe Vollständige Sammlung gefährlicher
Wörter und Gedanken , www.vsgwg.gov.org
I ch wache auf, weil jemand immer wieder meinen Namen sagt. Als ich mich ins Bewusstsein zurückkämpfe, sehe ich blonde Haarsträhnen wie ein Heiligenschein, und einen wirren Moment lang denke ich, vielleicht bin ich tot. Vielleicht haben sich die Wissenschaftler geirrt und nicht nur die Geheilten kommen in den Himmel.
Dann werden Hanas Züge schärfer und ich stelle fest, dass sie sich über mich gebeugt hat. »Bist du wach?«, fragt sie. »Kannst du mich hören?«
Ich stöhne und sie rückt ein bisschen ab und atmet geräuschvoll aus. »Gott sei Dank«, sagt sie. Sie flüstert und sieht verängstigt aus. »Du warst so still, dass ich schon dachte, du wärst ⦠dass sie â¦Â« Sie bricht ab. »Wie geht es dir?«
»Beschissen«, krächze ich laut und Hana zuckt zusammen und wirft einen Blick über die Schulter. Ich bemerke einen Schatten, der direkt vor der Zimmertür
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