Der Bernsteinring: Roman
dir Freude?«
»Ja, Herr, große zumeist.«
Er nickte, schwieg einen Moment und meinte dann: »Nun ja, ich will in der Tat etwas Wichtiges mit dir besprechen, Stiftsschreiberin Anna. Und dazu solltest du mir zunächst eine Frage beantworten. Sag, könntest du dir auch ein Leben außerhalb des Stifts vorstellen?«
Verblüfft und plötzlich ein wenig heiser antwortete Anna: »Ich sagte doch, ich bin zufrieden hier, Herr. Ich habe eine angenehme Wohnung, gute Kleidung, reichliches Essen, eine eigene Magd, eine wunderbare Aufgabe als Schreibmeisterin. Und für mein Seelenheil bete ich siebenmal am Tag. Dank Euch habe ich auch ausreichend Nahrung für meinen Geist. Ich vermisse die Welt außerhalb des Stifts nicht sehr.«
»Nicht sehr. Also ein wenig. Anna, du bist ein junges Weib, und normalerweise wünschen sich junge Frauen einen Mann und Kinder. Ich habe dich in den ersten Jahren nicht gefragt, ob das dein Wunsch sein könnte, denn ich hatte das Gefühl, du wolltest zunächst der Erinnerung an dein früheres Dasein entfliehen. Doch nun bist du seit vielen Jahren eine ehrbare Stiftsjungfer, und dir steht auch der Weg in eine Ehe offen.«
Annas Finger verknoteten sich in ihrem Schoß. »Ja«, sagte sie.
»Könntest du dir die Heirat mit einem achtbaren Mann vorstellen?«
Anna sah ihm ins Gesicht, mit offenen Augen und einem leisen Lächeln.
»Ja, Herr.«
»Das ist recht. Ich glaube, du wirst ein gutes Eheweib, Kind. Du bist klug und gebildet. Du bist nicht scheu und«, er lächelte sie wissend an, » – wahrhaft schön.«
Röte überzog Annas Gesicht, aber sie hielt seinem Blick stand.
»Findet Ihr?«
»Ja, Kind, finde ich.«
Anna senkte jetzt doch den Blick. Der warme Ton, in dem Hrabanus zu ihr sprach, ließ kleine Schauder über ihre Haut laufen. Vielleicht hatte Rosa doch richtig gehandelt...?
»Ja, Anna, du wirst dir, wenn du einwilligst und du mutig bist, sogar den Wunsch erfüllen können, in ferne Länder zu reisen.«
»Herr, Ihr... ja...«
Er nahm ihre verkrampften Hände in die seinen und lächelte sie mit großer Freundlichkeit und Verständnis an.
»Wenn du also einverstanden bist, dann werde ich dir am nächsten Sonntag einen wohlerzogenen und wohlgestalten jungen Mann vorstellen. Er arbeitet seit drei Jahren als mein Partner im Gewürzhandel und hat sich in vielerlei Hinsicht ausgezeichnet. Carolus Teutscher genießt mein ganzes Vertrauen. Ich glaube, er ist deiner würdig.«
»Wer?«, keuchte Anna.
»Carolus, ein jüngerer Sohn eines Handelsherren, der seine Lehre bei mir gemacht hat und sich dabei sehr ausgezeichnet hat.«
»Ihr... Ihr wollt mich an einen Fremden verheiraten?«
»Anna, noch eben hast du dich erfreut über die Aussicht gezeigt, eine Ehe einzugehen.«
Sie entzog ihm mit einem Ruck ihre Hände.
»Aber doch nicht mit irgendeinem jungen Mann.«
»Kind, sei nicht so widersätzig. Ich kann ihm einen guten Leumund ausstellen. Das sollte dir doch genügen.«
»Ich will keinen jungen Mann!«
»Anna! Carolus ist siebenundzwanzig, und es ist für ihn an der Zeit, ein Weib zu nehmen.«
»Und so verfügt Ihr über mich, diese Stelle einzunehmen?«
»Ich habe... nun, ich habe keine Tochter. Sonst würde ich sie ihm geben. Du siehst, wie hoch ich ihn schätze.«
»Herr Hrabanus, Ihr habt kein Recht, über mich zu bestimmen.« Anna schüttelte den Kopf. »Auch wenn Ihr mich so hoch achtet, als sei ich Eure Tochter.«
Hrabanus stand auf und durchmaß den Raum mit einigen Schritten.
»Heirate ihn, Kind. Es soll dir an einer reichen Mitgift nicht fehlen.«
»Nein, Herr. Drängt mich nicht.«
Hrabanus blieb vor ihr stehen, sah sie plötzlich streng an und fragte scharf: »Hast du etwa jemanden kennen gelernt, der dein Herz betört hat?«
Sie drehte sich weg, um ihn nicht ansehen zu müssen. »Anna?«
»Ja, Herr.«
»Wer, Anna?«
»Das kann ich Euch nicht sagen, Herr.«
»Es wäre besser für dich, du tätest es!«
»Nein, Herr.«
»Er ist dir wohl nicht ebenbürtig, was? Hast du dir und mir Schande bereitet?«
»Nein, Herr, das tat ich nicht.«
»Und wie konnte dann ein Mann deine Sinne verwirren? Ich glaubte, du führtest hier im Stift ein keusches Leben!«
Sie stand auf und ging zum Fenster. Als sie sich umdrehte, lag eine Welt des Jammers in ihren Augen. Und er verstand.
»Nun ja, ich bin eben nur eine kleine Schlampe vom Katzenbauch«, flüsterte sie erstickt.
Der Ratsherr dämpfte seinen Ton ein wenig und sagte: »Du bist keine Schlampe, Anna. Niemand
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