Der deutsche Goldrausch
wird.
Einen Neuanfang für die beiden deutschen Staaten kann es nicht geben, die Geschichte geht einfach über den Bruch hinweg. Die alten Schulden, die Verpflichtungen und die Verstrickungen bleiben. Im neuen Jahr, dem Schicksalsjahr 1990, werden sie auch das neue Deutschland prägen. Eine Stunde null gibt es nicht. Die alte Macht wird von neuen Mächten abgelöst. Ein Verteilungskampf hat begonnen, obwohl das alte Regime noch nicht vollständig abgetreten ist.
1990
DIE JAGD
Natürlich sitzen die [westdeutschen Unternehmen] wie die Falken auf den Mauerzinnen, um sich auf die Beute zu stürzen. Marktwirtschaft erst einmal in Gang zu bringen heißt aber auch, daß man die Beutejäger ein bißchen gewähren läßt.
WOLFGANG KARTTE
Chef des Bundeskartellamts
Ihr seid auf mich angewiesen, denn ich bin reich und ihr seid arm. Schließen wir also ein Abkommen miteinander. Ich werde euch die Ehre gewähren, mir gefällig zu sein, unter der Bedingung, daß ihr mir das wenige gebt, was euch bleibt, für die Mühe, die ich auf mich nehme, um euch zu befehlen.
JACQUES ROUSSEAU
Politische Ökonomie (1755)
Windhundrennen
15. Februar 1990, Babelsberg
Dass Edgar Most und die westdeutschen Banker so vorsichtig sind, zahlt sich aus: Die PDS, noch an der Regierung, scheint nicht zu bemerken, was aus der DDR-Staatsbank werden soll. Die Bürgerrechtler Matthias Artzt und Gerd Gebhardt treibt unterdessen ein weiteres Problem um: Ihnen ist klar, dass die Treuhand eine mächtige und sehr große Behörde werden muss. Wie kann man verhindern, dass dieser Apparat in einem Sumpf von Korruption versinkt?
Artzt und Gebhardt haben westdeutsche Korruptionsfälle vor Augen, den Flick-Skandal und vor allem den Fall »Neue Heimat«. Vorstandsmitglieder des gewerkschaftseigenen Wohnungsbaukonzerns bereicherten sich über Jahre auf Kosten der Mieter und führten das Unternehmen in den Ruin. Wenn mäßig bezahlte Manager über milliardenschwere öffentliche Aufträge entscheiden oder unkontrolliert Zugriff auf ein großes Vermögen haben, muss es zwangsläufig zu Korruption und Missbrauch kommen, fürchten Artzt und Gebhardt.
Die Geschäfte der Treuhand müssten unter der Aufsicht eines unabhängigen Schiedsrichters abgewickelt werden, glauben sie, so wie Wahlbeobachter in jungen Demokratien prüfen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Sie tragen den Kirchen im Westen ihr Anliegen vor – die lehnen ab. Zu heikel. Schließlich schreiben sie auf Empfehlung von Carl Friedrich von Weizsäcker an den Lutherischen Weltbund (LWB) in Genf. Der LWB vertritt sechzig Millionen Christen weltweit, die sich der lutherischen Tradition verpflichten fühlen. Sein Motto in den 1980er Jahren ist schlicht: »Gottes Erde. Land für alle«. 1 Der Weltbund wirft schon seit langem vor allem der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds vor, dass sie die Konzentration der Macht in den Händen der Reichen förderten.
Der LWB erklärt sich bereit, den beiden Bürgerrechtlern zuzuhören, und lädt sie nach Genf ein. Es ist Matthias Artzts erste Reise in den Westen.
19. Februar 1990, Genf
Die Stadt im äußersten Südwesten der Schweiz an der Grenze zu Frankreich verkörpert die Schweizer Neutralität wie kaum ein anderer Ort. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) und das Internationale Rote Kreuz haben hier ihr Hauptquartier, die UN hat ebenfalls einen Sitz in der malerisch am Fuß der Alpen gelegenen Stadt. Genf ist zudem einer der wichtigsten Finanzplätze Europas und eine der teuersten Städte der Welt.
Auch Japans größtes Finanzinstitut, die Nomura Corporation, hat ihr Europa-Büro in Genf. Der Konzern ist eine Mischung aus Versicherung, Wertpapierhändler, Investmentbank und Großaktionär von vielen japanischen Industrieunternehmen.
Nomura kann sich mit den großen US-amerikanischen Banken messen und gilt als eine der größten Anlageberatungsfirmen der Welt. Anfang des Jahres sind die japanischen Konzerne auf dem Sprung. Sie wollen auch endlich in Deutschland aktiv werden, in den USA haben sie schon Immobilien und Konzerne in großem Stil aufgekauft. 2 Sony hat gerade Columbia Pictures übernommen, das Rockefeller Center gehört dem Konzern Mitsubishi, Tiffany wurde ebenfalls von einem japanischen Investor aufgekauft. Kredite sind billig in Japan, zudem haben die Pensionsfonds eine enorme Menge Geld angesammelt, das investiert werden will.
An der »Deutschland AG« beißen sich die Japaner lange Zeit die Zähne aus.
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