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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Kette von Treppenstufen sich in die Höhe zu winden schien. Es erinnerte ihn an eine riesige DNA-Spirale: zwei Elemente, die in perfekter Harmonie miteinander verflochten waren. Die Plattform an der Spitze des Turms war achteckig und zu allen Seiten hin voll verglast. Auf dem Dach darüber bildeten eiserne Stützpfähle eine Pyramide, die ein Flaggenmast zieren würde.
    Fünfzig Meter.
    Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten, dachte Rex, während er nostalgisch an den alten Turm zurückdachte, den er als Junge noch bestiegen hatte. Es war eine seiner Jugenderinnerungen, die da abgerissen worden war. Bei diesem Gedanken kam er sich plötzlich sehr alt vor, ein Gefühl, das er immer öfter hatte. Es war, als entglitte ihm die Zeit. Die Jahre schrumpften auf Tage zusammen. Alles schien gerade erst passiert zu sein, auch wenn es in Wirklichkeit schon lange zurücklag. So war es zum Beispiel ein halbes Jahr her, dass er diese Strecke gefahren war, und nun kam es ihm vor, als wäre er hier erst vor einer Stunde zum ersten Mal vorbeigekommen. Auch die vier Jahre, die er inzwischen bereits in Köln arbeitete, waren wie im Flug vergangen, fast als hätte er gerade erst an der Universität Aachen gekündigt. Und die Jahre an der Universität schmolzen im Rückblick ebenfalls auf wenige prägnante Augenblicke zusammen. Augenblicke, in denen Victor Hoppe allerdings eine große Rolle spielte. Wie hätte es auch anders sein können? Ihre erste Begegnung lag schon mehr als zehn Jahre zurück. Und der Zeitpunkt ihres ersten Kontakts sogar noch länger. Er erinnerte sich noch genau an das Datum der Glückwunschkarte, die alles in Gang gesetzt hatte: der 9. April 1979.
    Er seufzte kurz, nahm den Fuß von der Bremse und gab wieder etwas Gas. Das Auto fuhr gemächlich an dem enormen Krater vorbei, der da in den Vaalserberg gerissen worden war. Er sah auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war fünf vor elf. Sonntag, der 21. Mai 1989.
    Seit dem plötzlich unterbrochenen Anruf dieser Frau vor fünf Tagen war Cremer nicht mehr zur Ruhe gekommen. Natürlich fragte er sich, was genau geschehen war, aber die Ursache seiner Unruhe lag vor allem in seinem Schuldgefühl, das sich plötzlich wieder auf das Heftigste bemerkbar gemacht hatte. Keinen Augenblick hatte ihn seither der Gedanke losgelassen, dass er für alles Vorgefallene mitverantwortlich war, auch wenn er noch gar nicht wusste, wie es ausgegangen war. Aber er hätte eingreifen müssen, schon von Anfang an. Das war ihm erst in den letzten Tagen richtig klar geworden. Er hätte niemals so feige sein dürfen. So jemand war er nicht. So jemand war er nie gewesen. Vielleicht, und das hoffte er sehr, machte er sich zu Unrecht Sorgen, aber falls doch schreckliche Dinge geschehen waren, falls Victor Hoppe noch mehr Grenzen übertreten hatte, dann durfte er, Rex Cremer, sich nicht der Verantwortung entziehen.
    Mit dieser Einstellung war er an jenem Sonntagmorgen um zehn Uhr in Köln losgefahren. Fest entschlossen. Selbstbewusst. Aber als er eine Stunde später die Route des Trois Bornes hinunterfuhr, war davon nicht mehr viel übrig, und er fühlte sich vor allem nervös und ängstlich. Es war lähmend, doch er konnte nichts dagegen tun.
    Als er in das Dorf hineinfuhr, läuteten gerade unaufhörlich die Kirchenglocken. Er sah ein paar Leute schnell die Straße überqueren. Sie gingen in Richtung der Kirche, wo wahrscheinlich gleich die Sonntagsmesse anfangen würde. Er drosselte das Tempo, bis er fast zum Stillstand gekommen war. Als die Straße wieder leer war, fuhr er weiter zum Haus von Victor Hoppe.
    Kaum war er ausgestiegen, fiel ihm auf, wie drückend warm es war. Ein Unwetter war vorhergesagt, das der Hitze der letzten Tage ein Ende bereiten sollte, aber vorher sollte es noch einmal sehr heiß werden.
    Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er wischte sich über die bereits klebrige Stirn und schritt auf das Tor zu. Unvermittelt ging jedoch die Haustür auf, und Victor trat heraus. Rex verlangsamte seine Schritte und holte tief Luft. Er wusste nicht, ob der Doktor aus dem Haus gekommen war, um ihn zu begrüßen, oder ob er nur gerade irgendwohin hatte aufbrechen wollen.
    »Ich habe Sie schon erwartet«, sagte Victor, bevor Rex selbst zu Wort kommen konnte. Der Doktor schloss das Tor auf und öffnete es weit. Rex fiel auf, dass sein ehemaliger Kollege sich verändert hatte. Die Frisur. Der Bart. Vor allem sein ungepflegtes, rotes Haar fiel auf. Es reichte ihm fast bis auf die

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