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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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auch dann nicht wahrgenommen, wenn ich aus voller Brust geschrien hätte. In diesem Moment war sie mir nicht nur fremd, sie war mir fern. Unerreichbar fern. Ich konnte ihr nichts sagen, konnte ihr nichts zurufen – konnte nur ohnmächtig lauschen, was sie mir zu sagen hatte. Ja, sie sagte mir etwas oder dachte es zumindest intensiv. In jedem Fall hörte ich … fühlte ich ihre Stimme.
    Da war Gefahr. Große Gefahr …
    Eben noch war ich wie gelähmt gewesen. Nun machte ich instinktiv einen Schritt nach vorne. Ich wollte zu ihr laufen, sie an mich reißen, sie beschützen, vor was auch immer.
    Ehe ich die Mitte der Tribüne erreicht hatte, von der aus Stufen nach unten führten, wusste ich … nein, fühlte ich, dass nicht sie in Gefahr schwebte – sondern ich.
    Schon im nächsten Augenblick vernahm ich ein Knirschen, ein Ächzen, ein Krachen, so, als würde ein uralter Baum vom Wind entwurzelt werden und auf den Waldboden donnern. Doch das Holz, das da splitterte, war nicht das eines Baumes, sondern das von den Bänken. Einer der Eisenträger, der die Tribüne hielt, hatte unter der Last der vielen Zuschauer nachgegeben und war zur Seite gekippt. Mit ihm brach eine ganze Reihe in sich zusammen, und während die meisten Zuschauer gerade noch rechtzeitig aufspringen konnten, war ein Mann durch das Holz gebrochen, steckte nun bis zum Oberkörper in diesem Loch und klammerte sich hilflos an den Rändern fest, während Blut über seine Hände lief. Das Krachen übertönte das entsetzte Geschrei. Panik und Entsetzen machten sich breit – zugleich aber auch Entschlossenheit, dem Unglücklichen zu helfen. Schon bückten sich drei Männer nach ihm, zogen ihn hoch, so dass er auf einem noch heilen Stück der Bank zu liegen kam, und schleppten ihn dann auf die Wiese, wo er kraftlos, aber – bis auf die blutende Hand unverletzt – liegen blieb. Ich hatte alles beobachtet und war zutiefst erleichtert. Zu spät bemerkte ich, dass sich das Gewicht der Tribüne verlagert hatte. Ich sah, wie ein zweiter Eisenträger zu schwanken begann und die Bänke, wenn auch nicht zusammenbrachen, so doch nach vorne kippten und die Zuschauer, die es wie ich noch nicht geschafft hatten, von den höheren Rängen zu flüchten, unter lautem Geschrei ineinanderstolperten, liefen und fielen.
    Ich bemerkte, dass Lukas Arndt seitlich von der Tribüne gesprungen war und mir nun die Hand reichte, damit ich es ihm gleichtun konnte. Ich wollte seine Hand schon ergreifen, als ich hinter mir ein Kind schreien hörte. Eine Frau hatte dort gesessen, und daneben hatte ihr kleines Baby in einer Tragetasche gestanden. Als die Bank nun nach vorne kippte, fiel mir das Baby entgegen. Rasch streckte ich beide Arme aus und fing es gerade noch im letzten Augenblick auf. Es schrie durchdringend, schien ansonsten den Fall aber gut überstanden zu haben.
    »Gott sei Dank!«, stieß die mir fremde Frau aus. Ich wusste nicht, ob sie die Mutter des Kindes war oder nicht, wusste nur, dass mich schon seit Ewigkeiten niemand mehr so freundlich angelächelt hatte.
    Ich wollte das Lächeln erwidern und ihr das Baby reichen, als es plötzlich einen Ruck gab. Unter neuerlichem Knirschen brach ein weiterer Teil der Tribüne in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich fiel, fiel tief, unendlich tief, presste mit aller Kraft das Baby fest an mich und krümmte mich, um uns vor den Holzsplittern zu schützen. Irgendwann ließ das Knirschen nach, und der Boden unter meinen Füßen schien wieder trügerisch stabil.
    »Frau Richter, geben Sie acht!« Susanna Orqual hatte es geschafft, von der Tribüne zu fliehen, indem sie die Hand ergriffen hatte, die Lukas Arndt eigentlich nach mir ausgestreckt hatte. Doch während sie in Sicherheit war, hockte ihr Mann Samuel Orqual hilflos in seinem Rollstuhl – und dieser Rollstuhl kam nun auf mich zu und drohte auf mich zu kippen.
    Vielleicht hätte ich ihn irgendwie ergreifen, mein Gewicht dagegenstemmen und ihn aufhalten können, wenn ich meine Hände freigehabt hätte. Doch ich hielt immer noch das Baby, während der Boden unter meinen Füßen erzitterte.
    Plötzlich hörte ich gar nichts mehr, kein Geschrei, kein Krachen, kein Knirschen. Ganz still wurde es in mir und ganz leer, als ich mich gegen den Schmerz wappnete. Das Holz würde unter mir nachgeben, die Splitter sich in meine Haut graben, meine Knochen brechen, der Rollstuhl mit ganzer Macht auf meinen wehrlosen Körper prallen, Samuel Orqual mich unter sich begraben.
    Ja, all das

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