Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Einleitung
Als der österreichische Journalist und Fernsehautor Josef Kirschner im Jahr 1976 seinen sehr erfolgreichen Ratgeber mit dem Titel schrieb: »Die Kunst, ein Egoist zu sein«, ahnte er nicht, wie sehr ihn die gesellschaftliche Wirklichkeit fünfundreißig Jahre später überholt haben würde. Kirschner meinte damals, dass unsere Gesellschaft krank sei, weil sich die meisten Menschen zu sehr anpassten und dabei versäumten, ihren eigenen Weg zu gehen. 1 »Schonungslos werden uns jene Schwächen vor Augen geführt, die uns an der Selbstverwirklichung hindern«, verkündete der Klappentext. Statt nach Liebe, Lob und Anerkennung zu gieren, sollten wir es lieber wagen, uns ohne allzu viel Rücksicht durchzusetzen, befreit von den Meinungen anderer Menschen. Lieber ein erfolgreicher Egoist als ein duckmäuserischer Anpasser, lautete die frohe Botschaft.
Im Deutschland des Jahres 2010 beschäftigen uns andere Sorgen. Die Idee der Selbstverwirklichung ist heute kein ferner Traum mehr, sondern eine tägliche Sorge. In dem Anspruch, anders zu sein als die anderen, sind sich alle gleich. Das Wort Egoismus aber hat seinen verbotenen Zauber verloren. Die »Schwächen«, die Kirschner ausmerzen wollte, werden heute allenthalben schmerzlich vermisst: die Rücksicht und die Scham, die Hilfsbereitschaft und die Bescheidenheit. Als »egoistisch« gebrandmarkte Banker gelten heute als die Urheber der jüngsten Finanzkrise. Wirtschaftswissenschaftler und Politiker zweifeln öffentlich an den Segnungen eines Wirtschaftssystems, das
auf den Prinzipien des Egoismus und des Eigennutzes beruht. Unternehmensberater und Consultants unterrichten Manager in kooperativem Verhalten. Ungezählte Festredner beklagen hoch bezahlt den Verlust der Werte. Und kaum eine Talkshow vergeht ohne den diffusen Ruf nach einer »neuen Moral«. Die Kunst, kein Egoist zu sein, so scheint es, steht heute höher im Kurs.
An die Moral zu appellieren fällt dabei niemandem schwer. Und es hat viele Vorteile. Es kostet nichts, und es lässt einen selbst in gutem Licht erscheinen. Doch so nötig ein neuer Blick auf die Moral im Zeitalter der Weltgesellschaft tatsächlich ist - eine Moral nach dem Ende der Systemkonkurrenz von Sozialismus und Kapitalismus, eine Moral in den Zeiten des Klimawandels, des Gefahrenindustrialismus und der Ökokatastrophe, eine Moral der Informationsgesellschaft und der Multikulturalität, eine Moral der globalen Umverteilung und des gerechten Krieges -, so wenig scheinen wir bis heute zu wissen, wie Menschen tatsächlich moralisch funktionieren.
In diesem Buch soll versucht werden, dieser Frage näherzukommen. Was wissen wir heute über die moralische Natur des Menschen? Was hat Moral mit unserem Selbstverständnis zu tun? Wann handeln wir moralisch und wann nicht? Warum sind wir nicht alle gut, wo wir es doch eigentlich ganz gerne wären? Und was könnte man in unserer Gesellschaft ändern, um sie langfristig »besser« zu machen?
Was ist das überhaupt - die Moral? Es ist die Art, wie wir miteinander umgehen. Wer moralisch urteilt, teilt die Welt in zwei Bereiche: in das, was er achtet, und in das, was er ächtet. Tag für Tag, manchmal Stunde um Stunde beurteilen wir etwas nach gut und schlecht, akzeptabel und nicht akzeptabel. Und was der Inhalt des moralisch Guten sein soll, darin sind sich die allermeisten Menschen erstaunlich einig. Es sind die Werte der Ehrlichkeit und der Wahrheitsliebe, der Freundschaft, der Treue und der Loyalität, der Fürsorge und Hilfsbereitschaft, des Mitgefühls und
der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit, der Höflichkeit und des Respekts, des Muts und der Zivilcourage. All das ist irgendwie gut. Aber gleichwohl gibt es keine absolut sichere Definition des Guten. Mutig zu sein ist eine gute Eigenschaft - aber nicht in jedem Fall. Loyalität ehrt den Loyalen, aber nicht immer. Und konsequente Ehrlichkeit führt nicht ins Paradies, sondern stiftet vermutlich vielfachen Unfrieden.
Um das Gute zu verstehen, reicht es nicht aus zu wissen, was es sein soll. Vielmehr müssen wir unsere komplizierte und oft verquere Natur verstehen. Aber was ist das, »unsere Natur«? Für den schottischen Philosophen David Hume gab es zwei mögliche Betrachtungsweisen. 2 Einmal kann man sie studieren wie ein Anatom. Man fragt nach ihren »geheimsten Ursprüngen und Prinzipien«. Diese Arbeit erledigen heute die Hirnforscher, die Evolutionsbiologen, die Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen. Die zweite Perspektive
Weitere Kostenlose Bücher