Der Gesang des Satyrn
Anklageschrift für mich ergab, war, dass das Schicksal ihr keine Chance ließ, etwas anderes zu sein, als sie war, und dass sie trotzdem zeitlebens für eine Chance gekämpft haben muss.
Neairas Leben ist uns durch Apollodoros überliefert -
von ihrem frühen Verkauf an Nikaretes Bordell, ihren Liebhabern und Freiern, ihrem Freikauf von Timanoridas und Eukrates, dem Leben in Athen an der Seite Phrynions.
Auch den Skandal in Chabrias Haus und ihre Flucht nach Megara werden von Apollodoros beschrieben sowie die Rückkehr mit Stephanos nach Athen. Danach wühlt er sogar noch tiefer in ihrer Familiengeschichte und führt die Ehen Phanos und ihren Fehltritt mit Epainetos auf. Auch hierbei lässt er keine Gelegenheit aus, Neaira und Phano in ein abwertendes Licht zu rücken und ihre Schamlosigkeit hervorzuheben.
Trotzdem ging es mir nicht darum, Neaira das Denkmal einer tragischen Lumpenprinzessin zu setzen.
Denn obwohl wir davon ausgehen können, dass Apollodoros sie schlechter dargestellt haben wird, als sie tatsächlich war, wird Neaira die ihr zur Verfügung stehenden Mittel genutzt haben, um für sich zu kämpfen.
Doch welche Mittel dürften einer Frau, die bereits als Kind zur Prostitution gezwungen wurde und deshalb als unehrenhaft galt, einer rechtelosen Sklavin in einer Frauen unterdrückenden Gesellschaft, wohl zur Verfügung gestanden haben? Deshalb galt es für mich, Neairas Taten nicht zu beschönigen, sondern vielmehr Beweggründe zu suchen und die Anklage wenn überhaupt jenen zukommen zu lassen, die sie zu dem Menschen machten, der sie letztlich wurde.
Neaira ist und bleibt eine tragische Gestalt der Geschichte. Wir wissen nicht, ob Stephanos den Prozess für sie gewinnen konnte und was aus ihr und Phano geworden ist.
Zu glauben, dass sie nach all den Mühen des Lebens, all den Rückschlägen die sie offensichtlich erlitt, letztendlich mit fast sechzig Jahren ihr Glück fand, fällt mir schwer. So bleibt mir letztendlich nur zu hoffen, dass es so war und ihr mit diesem Buch im Nachhinein eine Stimme zu verleihen.
Das Märchen der berühmten und verehrten Hetären
Hetären waren schön, reich, begehrt, unabhängig, selbstständig, klug, gebildet und verführerisch.
Noch immer muss dieses Bild der griechischen Hetären viel zu oft als Vorzeigemodell für die emanzipierten Frauen der Antike herhalten. Es gab sie tatsächlich, jene berühmten Hetären wie Phryne, Rhodopis oder Lais. Die antiken Dichter schrieben über sie, lobten und besangen ihre Schönheit und Klugheit, sie wurden auf Vasen abgebildet, in Reden und Vorträgen verewigt und beanspruchten große Geschenke, die ihren kostspieligen Lebensunterhalt sicherten, für ihre Gunst. Doch derart großer Ruhm und Reichtum waren nicht die Regel – nur einige Wenige erreichten diesen Status und gingen in die Geschichte ein. Die meisten boten ihre Dienste für viel weniger Geld an und wurden dafür weder besungen noch gefeiert.
Aber was wurde aus denen, die tatsächlich reich und berühmt waren - aus den schönen unabhängigen Hetären?
Wir erfahren es aus komödiantischen Schriften wie z. B.
der im Buch erwähnten „Jägerin“. So mussten nicht wenige von ihnen im Alter ihre Gesellschaft für geringe Entlohnung anbieten, verfielen dem Alkohol, starben verarmt und wurden zum Dank für ihre „Dienste“
öffentlich auf Bühnen verspottet. Eine zweifelhafte Eigenständigkeit, wie ich finde, die zudem noch zeitlich begrenzt war. Und warum hat z. B. Lais von Korinth, die bereits in ihrer Anfangszeit angeblich 10.000 Obolen für ihre Dienste beanspruchen konnte, versucht einem gewissen Eubotas die Heirat aufzudrängen (was er listig ablehnte). Der Tausch ihres großen Ruhmes, ihrer Eigenständigkeit und ihres Reichtums gegen ein vor der Öffentlichkeit ausgeschlossenes Leben scheint wenig logisch zu sein – und doch ist er es! Denn die Hetären wussten sehr wohl um ihren vergänglichen Ruhm.
Man kann also sagen – eigenständig im Sinne von den Männern gleichgestellt waren sie zu keiner Zeit. Sie waren wie alle anderen Frauen rechtlich unmündig in der Athener Gesellschaft. Die emanzipierte und gleichberechtigte Hetäre ist schon durch ihre Rechtelosigkeit als Frau in der Gesellschaft eine Erfindung der Moderne, die das Phänomen Hetäre gerne mit schillernden Farben ausmalt, um es als gesellschaftlich tragbar darzustellen.
Hetären waren im Grunde genommen ebenso abhängig wie die weggesperrten Gattinnen und alle Frauen der antiken
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