Der gestohlene Abend
preisgeben, wenn man es nur intensiv genug betrachtete.
»Solche Gedichte wurden glaube ich in den Sechzigerjahren geschrieben«, sagte sie.
Barstow nickte. »Kennen Sie vielleicht ein paar Autoren?«, fragte er zurück.
»Kerouac«, warf Frederic Miller aus der ersten Reihe ein, offenbar bemüht, seinen Aussetzer von zuvor wieder wettzumachen.
»Kerouac war kein Dichter«, widersprach eine Stimme hinter mir. »Er hat Romane geschrieben.«
»Cummings«, flüsterte die Studentin schüchtern.
»Cummings«, wiederholte Barstow und nickte zufrieden. »Ja. Nicht schlecht. Die Zeit stimmt nicht so ganz, aber gut. Zurück zum Text. Brenda Glenn?«, las er auf seiner Teilnehmerliste und schaute sich erneut im Raum um.
»Ich ... ich kann mit dem Gedicht überhaupt nichts anfangen«, antwortete eine blonde Studentin zwei Tische hinter mir. Sie war ein eher sportlicher Typ und braun gebrannt. Vermutlich verbrachte sie ihre Freizeit auf dem Tennisplatz oder beim Segeln.
»Das nehme ich Ihnen nicht übel«, antwortete Barstow und ging zu seinem Pult zurück. »Es ist auch überhaupt kein Gedicht, sondern eine Zeitungsmeldung von heute Morgen.«
Ein empörtes Raunen ging durch die Reihen, gefolgt von Kichern hier und da. Ich kam mir ziemlich dumm vor mit meiner Sanduhr.
»Zum Lachen gibt es überhaupt keinen Grund«, sagte Barstow. »Jeder von Ihnen hat versucht, hier etwas zu lesen, was eigentlich nicht dasteht. Das war ja die Aufgabe. Und Sie«, fuhr er an die gerichtet fort, die sich geäußert hatten und fixierte dabei auch mich kurz, »nehmen mir den kleinen Scherz bitte nicht übel.«
Er hielt eine Tageszeitung hoch, eine von der Sorte, wo die Schlagzeilenhöhe ein Drittel der Seite ausmacht. Jetzt konnten wir den Satz in seinem ursprünglichen Kontext bewundern.
»Wenn ich eben sagte, es ist gar kein Gedicht«, erklärte Barstow, »dann ist das natürlich auch nicht ganz richtig. Die Sache ist vielmehr so: Wir wissen überhaupt nicht so genau, was ein Gedicht und was kein Gedicht ist, ebenso wenig wie wir wissen, was ein Ding an sich ist. Wir können niemals wissen, was wir lesen, solange wir uns nicht gleichzeitig bewusst machen, wie wir lesen. Vergessen Sie also, was Sie möglicherweise in der Schule gelernt haben. Wir werden uns hier nicht fragen, was etwas bedeutet, sondern zunächst einmal wie.«
Es war jetzt völlig still im Raum. Einige Studenten schrieben mit, aber die meisten hingen mit einer Mischung aus Verwirrung und Faszination an Barstows Lippen, unschlüssig, ob er vielleicht noch so einen Scherz auf Lager hatte. Aber der Spaß war vorbei. Barstow begann seinen Vortrag bei Kant, bei der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, und endete zwanzig Minuten später bei Heisenberg und den Erkenntnissen der Quantenmechanik. Jetzt schrieb niemand mehr mit. Ein Assistent brachte einen Karton mit Fotokopien herein. Barstow nahm ihn entgegen und verteilte die darin befindliche Literaturliste. Wie sollte man das nur schaffen? Ich überflog die Autorennamen und die Titel. Norris, Dreiser, Crane. Dickleibige Romane. Dazu jede Menge Aufsätze unterschiedlichster Prägung: marxistische, psychoanalytische, strukturalistische, hermeneutische, feministische, soziologische, rezeptionstheoretische und noch einige andere Texte. Und all das für ein Programm von knapp zehn Wochen.
»Wir wollen in diesem Trimester die Welt des Naturalismus durch verschiedene Brillen betrachten«, hörte ich ihn sagen. »Mit Sicherheit ist eine dabei, die Ihnen auf Anhieb passt. Aber genau die sollten Sie nicht aufziehen. Versuchen Sie es stattdessen mal mit einer anderen Sehstärke. Als Testballon für Freitag hätte ich gerne einen Freiwilligen für Sister Carrie aus marxistischer Sicht. Meldet sich jemand?«
Die Aufgabe ging glücklicherweise an Brenda. Fünfhundert Seiten Dreiser und vier Aufsätze bis Ende der Woche! Und den dritten Kurs, den ich belegen musste, hatte ich noch gar nicht ausgewählt. Eine Stunde später saß ich in der Bibliothek und erledigte rasch die zwei Seiten Erörterung für Goldensons Filmseminar. Mit diesem Barstow war nicht zu spaßen. Für den musste ich Platz schaffen. Warum musste der Ritter sterben?
Kapitel 8
»Film 101?«, sagte Winfried Berg und zog die Augenbrauen hoch. »Was willst du denn da?«
Wir standen auf dem Balkon von Ruth Angerstons Apartment und rauchten. Winfried war älter als ich. Ruth - so schnell ging das hier mit den Vornamen - hatte ihn mir gleich zu Anfang vorgestellt, aber
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