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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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den eigentlichen Preis ausrechnen können oder Das ist nur für die zwei Probewochen, nach denen ich entscheide, ob ich mit Ihnen arbeiten will. Aber Dolly konnte nicht sprechen. Sie weinte.
    Als die erste Rate auf ihrem Bankkonto eintraf, war Dolly dermaßen erleichtert, dass das Geld die schwache, besorgte Stimme in ihr fast übertönt hätte, die flüsterte: Dein Klient ist ein völkermordender Diktator . Dolly hatte weiß Gott schon früher mit Arschlöchern gearbeitet; wenn sie diesen Job nicht annahm, würde jemand anders sich darauf stürzen: als PR -Agentin durfte man die Kunden nicht verurteilen – all diese Ausreden hatte sie im Hinterkopf, bereit dazu, loszulegen, sollte die schwache, rebellische Stimme jemals den Mut fassen, sich laut zu äußern. Aber in letzter Zeit konnte Dolly sie gar nicht mehr hören.
    Während sie jetzt über ihren zerschlissenen Perserteppich lief und nach der neuesten Nummer des Generals suchte, klingelte das Telefon. Es war sechs Uhr morgens. Dolly stürzte zum Hörer und betete, dass Lulu nicht aus dem Schlaf gerissen wurde.
    »Hallo?« Aber sie wusste bereits, wer es war.
    »Wir sind nicht glücklich«, sagte Arc.
    »Ich auch nicht«, sagte Dolly. »Sie haben nicht die …«
    »Der General ist nicht glücklich.«
    »Arc, hören Sie mir zu. Sie müssen die …«
    »Der General ist nicht glücklich, Miss Peale.«
    »Hören Sie mir zu, Arc.«
    »Er ist nicht glücklich.«
    »Das liegt daran, dass – hören Sie, nehmen Sie eine Schere.«
    »Er ist nicht glücklich, Miss Peale.«
    Dolly verstummte. Manchmal, wenn sie Arcs aalglatten Monologen zuhörte, war sie sicher, einen ironischen Unterton in den Wörtern zu hören, die ihm zu sagen befohlen worden waren, als spreche er in einem Geheimcode mit ihr. Jetzt folgte eine längere Pause. Dolly sagte sehr sanft: »Arc, nehmen Sie eine Schere und schneiden Sie die Bänder von der Mütze. Der General darf verdammt nochmal keine Schleife unter dem Kinn haben.«
    »Er wird diese Mütze nicht mehr tragen.«
    »Er muss die Mütze aber tragen.«
    »Er wird sie nicht tragen. Er weigert sich.«
    »Schneiden Sie die Bänder ab, Arc.«
    »Gerüchte haben uns erreicht, Miss Peale.«
    Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Gerüchte?«
    »Dass Sie nicht mehr so wie früher die Beste sind. Und jetzt ist auch noch die Mütze kein Erfolg.«
    Dolly fühlte sich von bösen Mächten umzingelt. Während sie dort stand und unter ihrem Fenster der Verkehr der Eighth Avenue vorbeirauschte, fuhr sie sich durch die Haare, die sie nicht mehr färbte und die jetzt lang und grau werden durften. Dabei fühlte sie sich plötzlich von irgendetwas in ihrem Inneren getrieben.
    »Ich habe Feinde, Arc«, sagte sie. »Genau wie der General.«
    Er schwieg.
    »Wenn Sie auf meine Feinde hören, dann kann ich meine Arbeit nicht tun. Und jetzt ziehen Sie den edlen Füllfederhalter heraus, den ich immer, wenn Ihr Bild in der Zeitung ist, sehen kann, und schreiben Sie auf: Die Bänder von der Mütze abschneiden. Weg mit der Schleife. Die Mütze weiter nach hinten schieben, damit die Haare des Generals zu sehen sind. Tun Sie das, Arc, und warten Sie ab, was dann passiert.«
    Lulu war in ihrem rosa Schlafanzug ins Zimmer gekommen und rieb sich die Augen. Dolly schaute auf die Uhr, sah, dass ihre Tochter eine halbe Stunde Schlaf verloren hatte, und fühlte sich zerknirscht bei dem Gedanken, dass Lulu in der Schule müde sein würde. Sie legte ihrer Tochter den Arm um die Schultern. Lulu nahm die Umarmung mit der königlichen Haltung entgegen, die ihr Markenzeichen war.
    Dolly hatte Arc vergessen, aber jetzt sprach er aus dem Telefon an ihrem Hals. »Das werde ich, Miss Peale.«
    Es dauerte einige Wochen, bis das Foto des Generals abermals erschien. Jetzt war die Mütze nach hinten geschoben, und die Bänder waren verschwunden. Die Schlagzeile lautete:
    Neue Beweise: Ausmass von B.s Kriegsverbrechen möglicherweise übertrieben
    Es lag an der Mütze. Er sah niedlich aus damit. Wie sollte ein Mann mit solch einer flauschigen blauen Mütze über Leichen gehen können?
    La Dolls Absturz hatte sich vor zwei Jahren auf einer Silvesterparty ereignet. Die kulturgeschichtlich informierten Experten, die sie einer Einladung für wert befand, gingen davon aus, dass sie Truman Capotes Black and White Ball noch übertreffen würde. Man sagte nur Die Party dazu, oder Die Liste , im Sinne von: Steht er auf der Liste? Es gab etwas zu feiern – aber was eigentlich? Im Rückblick war Dolly sich

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