Der Kirschbluetenmord
griff in seinen Umhang, holte einen mochi- Kuchen hervor und aß gemächlich und mit kleinen Bissen. Der kleine, aber nährstoffreiche Kuchen, der den Samurais auf langen Reisen häufig als Nahrung diente, würde seinen knurrenden Magen zum Schweigen bringen.
Allmählich beruhigte sich das hektische Treiben. Als die Nacht hereinbrach, breitete sich Stille über der Villa aus. Auch in dem Haus, unter dem Sano sich befand, war kein Geräusch mehr zu hören, und niemand kam an dem Gebäude vorüber. Sano wartete mit wachsender Ungeduld. Er sehnte sich nach Wärme für seine schmerzenden, vor Kälte steifen Muskeln, seine Neugier wollte befriedigt werden, und es drängte ihn zum Handeln. Schließlich kroch er zu einer Seite des Hauses hinüber und schob den Kopf und die Schultern ins Freie. Zwischen den dunklen Bäumen war niemand zu sehen. Sano glitt aus seinem Versteck heraus und erhob sich.
Er taumelte leicht, weil seine Beine vom langen Kauern und Kriechen steif waren. Hier, im Freien, war die Luft kälter, aber frischer, und erleichtert atmete Sano tief durch. Dann schlich er vorsichtig an der Seite des Hauses entlang, wobei er sich geduckt hielt, ständig unter der Höhe der Fenster. Am Zimmer an der Gebäudeecke richtete er sich langsam zu voller Größe auf – und seufzte leise vor Enttäuschung. Hinter den hölzernen Fenstergittern waren die Vorhänge zugezogen. Er konnte nur unbestimmte, dunkle Silhouetten im Innern des beleuchteten Zimmers erkennen. Er drückte ein Ohr an die Wand. Diesmal hörte er ein leises Stöhnen. Er mußte einen Blick ins Zimmer werfen!
Sano betrachtete die Wand. Vergeblich suchte er nach Rissen oder Löchern. Er strich mit der Hand über das rauhe, wettergegerbte Holz. Seine suchenden Finger ertasteten eine glatte, runde Stelle von der ungefähren Größe eines menschliches Auges. Eine Verwachsung im Holz. Vielleicht …
Sano zog seinen Dolch, drückte die Spitze fest in die Mitte der Verwachsung und drehte und verkantete die Klinge, konnte den Knoten aber nicht aus dem Holz lösen. Er versuchte es noch einmal. Hatte er diesmal eine leichte Bewegung gespürt? Vorsichtig setzte er die Dolchklinge an, benutzte sie als Hebel. Na also …
Mit einem beinahe unhörbaren Kratzen löste sich die Verwachsung; dennoch kam Sano das Geräusch so laut vor, daß er sich hastig unter dem Haus in Deckung warf. Ob Fürst Niu etwas gehört hatte? Regungslos blieb Sano im Schatten liegen, umklammerte den Dolchgriff und erwartete, jeden Augenblick Schreie und das Poltern schneller Schritte zu hören. Doch nichts geschah. Dennoch verharrte er noch eine Zeitlang. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Doch die Villa blieb in nächtliche Stille gehüllt.
Sano kroch aus seinem Versteck hervor und erhob sich. Den Dolch noch immer in der Hand, schaute er sich um. Niemand zu sehen. Dann drückte er das Auge auf das Astloch, das die Verwachsung im Holz hinterlassen hatte.
Ein Kreis aus Kerzen beleuchtete den nackten Körper, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Doch es war nicht der Körper eines Mannes, sondern der eines jugendlichen Samurai mit rasiertem Scheitel. Die lange Stirnlocke ließ erkennen, daß bei dem Jungen der Mannbarkeitsritus noch nicht vollzogen war. Er lag regungslos da, die Augen geschlossen. Eine unnatürliche Röte, die wahrscheinlich auf die Drogen zurückzuführen war, überzog sein schlaffes Gesicht. Fürst Niu stand vor ihm. Auch er war nackt, und sein Glied war steif. Glänzender Schweiß ließ seine Muskeln deutlich hervortreten. Das narbige, verkümmerte rechte Bein wirkte wie ein monströses Anhängsel an seinem ansonsten makellosen Körper. Seine fiebrigen Augen glänzten; die Lippen waren leicht geöffnet und schimmerten feucht. Seine Brust hob und senkte sich unter schnellen, flachen Atemzügen, als er neben dem Jungen niederkniete. Mit einer Hand packte er sein eigenes Glied und streichelte es.
Kirschenessers Abschiedsbemerkung hatte Sano bereits stutzig gemacht; deshalb war er über diesen Anblick nicht allzu erstaunt. Etwas Ähnliches hatte er beinahe erwartet. Dennoch stiegen Abscheu und Enttäuschung in ihm auf. Prostitution mit Kindern, selbst in einer derart grotesken Form, war nicht nur erlaubt, sondern recht weit verbreitet und galt als durchaus gesellschaftsfähig. Somit hatte Fürst Niu sich allenfalls des Vergehens schuldig gemacht, einer derartigen Betätigung außerhalb der Grenzen Yoshiwaras zu frönen. Selbst eine vornehme junge Dame wie Yukiko hätte das
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