Der König von Havanna
ich dir sagen soll, du musst zu einem Orthopäden.«
»Na gut, gehen wir.«
»Neiiin, mein Kleiner, hier geht das nicht.«
»Warum nicht, Süße?«
»Weil’s hier keine Orthopäden gibt. Geht in ein normales Krankenhaus. Dieses hier ist nur für Notfälle.«
»Aber das hier ist ein Notfall, Schwester! Meinem Mann ist ein Steinbrocken auf den Fuß gefallen. Das ganze Haus ist über uns eingestürzt, und …«
»Bitte beruhigen Sie sich, Señora! Und schreien Sie nicht, Sie sind hier nicht zu Hause. Er ist weder verwundet, noch blutet er, also ist das keine schwere Verletzung und kein Notfall. Es-gibt-hier-kei-nen-Or-tho-pä-den! Ist das jetzt klar? Es ist nicht so, dass ich ihn nicht behandeln will, nur gibt-es-hier-kei-nen-Or-tho-pä-den! Verstehen Sie doch.«
Und schon lief die Krankenschwester woandershin. Dutzende warteten darauf, dass man sich um sie kümmerte. Rey und Magda gingen fort, traten wieder hinaus in den Regen.
»Gott sei Dank, immerhin haben die Blitze nachgelassen, gesegnet sei Santa Bárbara.«
»Warum?«
»Blitze machen mir Angst.«
Rey hinkte weiter, gestützt auf Magda. Die Stadt war völlig gelähmt. Und im Dunkeln. Nach tagelangem Regen war die Stadt in einen komaähnlichen Zustand gefallen. Stromfluss, Wasserversorgung, Telefonverbindungen, Gas und öffentliche Transportmittel waren unterbrochen. Rey und Magda merkten es gar nicht.
Hier und da ließ der Regen nach und verwandelte sich in einen feinen Sprühregen. Sie gingen über die Avenida del Puerto hinüber zu den Hochgleisen der Bahn. In der Umgebung von Tallapiedra gab es genügend Unterschlüpfe: ausrangierte, verrostete Maschinen, Metallbleche, Gebüsch. Sie krochen unter einen halb vergammelten LKW. Hier waren sie immerhin im Trockenen. Sie mussten niesen, hatten sich erkältet. Nur ein wenig ausruhen wollten sie und schliefen ein.
Am nächsten Tag taten ihnen alle Knochen weh . Sie wollten aufstehen. Rey strengte sich an und setzte sich in Bewegung. Es war bewölkt, Regen und Wind hatten aber nachgelassen. Reynaldo schlug seine alte Route ein. Er wusste, wohin er ging.
»Wohin gehen wir, Rey?«
»Zu meinem Häuschen, du wirst schon sehen.«
»Hahaha.«
»Magda, Himmel noch mal, lach nicht so dreckig!«
»Zu meinem Häuschen! Wenn man dich so hört, könnte man’s fast glauben.«
»Du musst dich aber auch über alles lustig machen.« Eine Stunde lang gingen sie weiter. Als ihnen wieder warm war, fühlten sie sich besser und legten einen Schritt zu. Magda seufzte: »Bittet, und es wird euch gegeben.«
»Was?«
»Das sagen die Pfarrer immer.«
»Gehst du in die Kirche?«
»Nein, aber ich stell mich mit meinen Erdnüssen ans Portal. Und dann sagen die Pfarrer immer: ›Bitte, und es wird dir gegebene«
»Schöne Scheiße.«
»Hmmm.«
»Bitte um ein Haus, Magda. Mal sehen, ob es uns vom Himmel fällt.«
»Und was zu essen, Rey. Was ich für’ nen Hunger habe!«
»Ich auch.«
Der Schrottplatz mit den verrosteten Karosserien war in Sicht. Rey fasste neuen Mut. Um sie herum war viel grünes und dorniges Gestrüpp und Morast. Kleine Rinnsale Wasser liefen über den Erdboden. Nach vier Tagen Regen konnte der Boden kein Wasser mehr aufnehmen. Rey zeigte ihr den Weg. Barfuß durch Wasser und Schlamm glitschend, traten sie ein. Er kannte diesen Ort in- und auswendig, fand aber den Container nicht. Sie schlüpften im Schildpanzer eines alten Autobusses unter. Man hatte Blechstücke von ihm abgerissen, aber einige waren doch noch geblieben. Der Hunger biss ihnen in die Eingeweide.
»Magda, ich kann nicht mehr.«
»Wir müssen etwas zu essen auftreiben, Rey. Wenn wir hier bleiben, verhungern wir.«
»Ich muss schlafen, ich kann nicht mehr.«
»Männer sind wirklich Jammerlappen … ganz so schlimm ist’s doch nicht, Rey. Es könnte schlimmer sein.«
»Ja, immer kann’s noch schlimmer sein … verdammt.«
»Ach, komm, lass mal deinen Knöchel sehen. Tut er noch weh?«
»Ja, ziemlich.«
»Jammerlappen! Du bist mir ein schöner Jammerlappen.«
»Warum fragst du dann erst? Hör jetzt auf zu frotzeln.«
»Schau, Rey, da hinten stehen ein paar kleine Häuser.«
»Ja, ich bin an die Leute da nie näher herangegangen, weil …«
»Weil du ein Eigenbrötler bist, aber ich gehe hin. Vielleicht geben sie mir etwas zu essen.«
»Nichts werden sie dir geben.«
»Wollen wir wetten?«
»Ja, ich setze hundert Grüne, dass sie nichts geben.«
»Und ich hundert, dass sie sehr wohl was geben. Los, leg deine hundert hin
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