Der Lavagaenger
Henri, ich dachte, du bringst mir bessere Nachricht. Sie lächelte traurig, dann drückte sie die Klinke nieder. In der Tür drehte sie jedoch um, schlurfte zurück und flüsterte Helder ins Ohr: Trotzdem danke, Henri. Schau mal im linken Schuh nach, hinterm Futter. Die Grüne Wituland …
Was?!, entfuhr es Helder, die ganze Zeit …
Tante Erdmuthe, die ja eigentlich Helders Großmutter war, nickte und legte einen Finger auf die Lippen. Dann verließ sie endgültig den Saal.
Die anderen Gäste nahmen dies erleichtert als Signal zum Aufbruch. Ihr verlegenes Schweigen verwandelte sich zunehmend in Getuschel und Geflüster, begleitet von einem emsigen Scharren und Schurren. Nach und nach leerte sich der Saal. Man verabschiedete sich eilig und händeschüttelnd vom Goldpaar. Jeder hatte plötzlich noch etwas Wichtiges vor, wollte nicht länger stören, es sei ja schon spät, alles in allem doch, ja, wirklich: eine sehr schöne Feier …
Schließlich gingen die Eltern schweigend an Helder vorüber. Der hob bedauernd die Schultern, als wollte er sagen, das habe ich nicht gewollt. Die da niedergeschlagen, wie ihres Lebens beraubt davonschlichen, waren doch immerhin seine Eltern.
Da saß er nun, allein, mit Großvaters zerlaufener Tagebuchtinte, seinen Schuhen … Die nun endgültig ins Feuer … mitsamt der Marke … er wollte keine Prämien mehr.
Draußen vor den blank geputzten Fenstern fuhr der kalte Wind in die leuchtenden Blütenkerzen der Kastanien, weiß wie Schnee wirbelten verblühte Blättchen umher.
Helder fror. Man hätte heizen sollen, dachte er und blickte auf den großen grünen Kachelofen in der Saalecke. Er stand auf, nahm die Schuhe vom Stuhl, ging zum Ofen hinüber und öffnete die gusseiserne Tür. Eine Weile starrte er ins leere, nur von Aschestaub bedeckte Feuerloch.
Es gibt keine Unschuld, dachte Helder. Dann zog er seine Halbschuhe aus, stellte sie ins Ofenloch und zog die Schuhe seines Großvaters an.
Er ging über die abgewetzten Dielen, sie knarrten. Er stand still und schloss die Augen. Er hörte nur noch den Wind, der durch die undichten Fenster pfiff. Er legte die rechte Hand auf das linke Schlüsselbein, die linke über das rechte. Er neigte den Kopf leicht nach rechts, so wie Mo es ihm gezeigt hatte. Dann ließ er die Hände langsam herabsinken, hob sie wieder, strich mit den Handrücken am Körper entlang, am Kopf vorbei aufwärts und öffnete Arme und Hände. Er begann sich zu drehen, die rechte Hand zum Stuckhimmel des Saales erhoben und die linke auf die abgetanzten Bretter weisend. Er drehte sich schneller und schneller. Die Dielen ächzten.
Da schlug eine Tür und brachte ihn zur Besinnung. Hastige Schritte, dann fiel die schwere Kneipentür ins Schloss. Helder trat an eines der Saalfenster und sah Susanne. Sie stieg in ein Auto. Er registrierte: Es war die Beifahrerseite. Als Letztes sah er ihre Füße, die in Sandaletten steckten. Ihre Fußnägel waren grün lackiert.
Vor dem Bahnhof stand Helder unschlüssig herum. Die Gedenktafel für Mendel war blank geputzt. Auf dem Vorplatzkonnte man noch die Stelle erkennen, wo der ausgebrannte Imbisswagen gestanden hatte.
Plötzlich quietschten Reifen, ein Auto bremste. Das Fenster des klapprigen Fords wurde heruntergekurbelt, und sichtbar wurde Ede, das Bahnhofsfaktotum.
He, Henri, kommst du mit?, rief er.
Wohin, fragte Helder.
Zur Quelle!
Oje, die Wunderquelle. Aber deine Oma mit dem Rheuma … Die ist doch längst tot, wollte er sagen, da erkannte er, wer noch in dem Wagen saß: Auf dem Beifahrersitz lümmelte der Vietnamese, Chorsänger und Besitzer der abgebrannten Bahnhofsimbissbude, eine Sonnenbrille auf der Nase und eine Zigarette im Mundwinkel. Auf dem Rücksitz, ebenfalls rauchend, Rosita. Sie schüttelte ihre Kupfermähne und nahm einen langen Zug, blies den Rauch aus und lächelte Helder an.
Zumindest schien es ihm, als ob sie lächelte. Ein Lächeln konnte er jetzt gut gebrauchen.
Ach ja, Rosita … Helder seufzte. Der Vietnamese also war sein Nebenbuhler von damals? Hatte sie mit dem auch aus dem Gaubenfenster geguckt? Erst geguckt, dann Kind gekriegt. Nee, nicht mit mir. – Helder versuchte sich in Ironie und dachte: bye-bye, Rosita.
Er sehnte sich plötzlich nach einer Zigarette, einer fast aufgerauchten Zigarette. Jetzt die Kippe auf dem Pflaster austreten und die Straße hinuntergehen, allein unter einem grauen, kalten Himmel …
Aber so einfach kommen wir aus Helders Geschichte nicht heraus. Und
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