Anonyme Untote - Eine Zombie-Liebesgeschichte
KAPITEL 1
Es ist dunkel, als ich auf dem Boden langsam wieder zu mir komme.
Durch ein Fenster dringt schwaches Kunstlicht, was eigentlich nicht sein kann, denn im Weinkeller gibt es gar keine Fenster. Mit dieser Frage werde ich mich allerdings erst beschäftigen, wenn ich herausgefunden habe, warum ich auf dem Rücken in einer Lache liege, die meine Klamotten durchweicht.
Außerdem höre ich irgendwo Sammy Davis Jr. »Jingle Bells« singen.
Als ich mich aufsetze, kullert etwas von mir herunter und landet mit einem lauten, dumpfen Knall neben mir. Eine Flasche. Im schwachen Licht, das durch das Fenster fällt, kann ich erkennen, wie sie über den Boden davonrollt, bis sie klirrend an die Wand stößt. Eine leere Weinflasche. Und die Wand ist gar keine Wand, sondern der Sockel des Backofens.
Ich befinde mich in der Küche.
Auf der Digitalanzeige im oberen Bereich des Herdes springt die Uhr von 12:47 auf 12:48.
Mir dröhnt der Schädel. Ich weiß zwar nicht, wie viele Flaschen Wein ich getrunken habe, aber ich kann mich noch erinnern, dass ich vor dem Mittagessen damit angefangen habe. Den Grund für mein Saufgelage habe ich so
deutlich vor Augen wie die digitalen Ziffern der Herduhr, aber keine Ahnung, wo die letzten zwölf Stunden abgeblieben sind.
Oder wie ich in der Küche gelandet bin.
Oder in was für einer Flüssigkeit ich hier hocke.
Einerseits will ich es gar nicht wissen, andererseits möchte ich einfach glauben, dass es sich lediglich um vergorene Trauben handelt. Dass ich es irgendwie aus dem Weinkeller in die Küche geschafft habe, ohnmächtig geworden bin und dabei den Wein ausgekippt habe. Allerdings sind meine Klamotten vorne kein bisschen feucht, sondern nur auf der Rückseite, und da die Flasche auf meiner Brust lag, als ich zu mir kam, kann ich den Wein nicht auf den Boden geschüttet haben, ohne mein Hemd zu bespritzen.
Ich greife mit der Hand in die Lache, eine geronnene, klebrige Flüssigkeit, und halte sie mir unter die Nase. Ein süßer Geruch. Zunächst glaube ich, dass es sich um Joghurt oder Erdbeermarmelade handelt, bis ich den Finger in den Mund stecke.
Erdbeer-Sahne-Eis von Baskin-Robbins. Das Lieblingseis meines Vaters. Er hat stets mindestens zwei Ein-Liter-Packungen davon im Gefrierschrank. Ich kapiere nur nicht, was es auf dem Küchenboden verloren hat. Doch als ich mich umdrehe und wankend aufrapple, verstehe ich, warum.
Dort liegen drei aufgeplatzte Packungen Eis, deren geschmolzener Inhalt über den Boden gelaufen ist. Umgeben von Schachteln Tiefkühlgemüse, Gefrierfleischpackungen, Tüten mit gefrorenem Saftkonzentrat und einem halben Dutzend Eiswürfelschalen; die Würfel sind aufgetaut und haben sich mit der Eiscreme zu der Pfütze vermischt.
Scheiße, denke ich. Was hab ich bloß angerichtet?
Nicht, dass das jetzt wirklich wichtig wäre. Denn meine Eltern werden mich in den Zoo geben, sobald sie aus Palm Springs zurückkehren. Falls mein Vater morgen nach dem Aufstehen über das, was ich angerichtet habe, nicht ohnehin so aufgebracht ist, dass er die Reise abbläst und mich aus reiner Bosheit in eine Forschungseinrichtung bringen lässt.
Ich habe keine Ahnung, was ich damit bezwecken wollte, als ich den kompletten Inhalt des Gefrierteils auf den Küchenboden geworfen habe, aber es wäre wohl keine dumme Idee, möglichst viel davon wieder zurückzustopfen und den Rest zu entsorgen, bevor meine Eltern aufwachen. Doch als ich das Gefrierfach öffne, muss ich feststellen, dass dort kein Platz mehr ist.
Es ist bereits von meinen Eltern belegt. Ich kann Hände, Beine und Füße erkennen und das Gesicht meines Vaters, das mich aus dem zweiten Fach anstarrt. Sein Kopf sowie die übrigen Körperteile meiner Eltern stecken in großen Gefrierbeuteln. Die meisten zumindest. Denn im Kühlschrank befinden sich ebenfalls einige Teile von ihnen.
Der ganze Wein, den ich getrunken habe, will plötzlich wieder zurück in die Flasche, und ich schaffe es gerade noch zur Spüle. Eigentlich ist es mehr wie rückwärts trinken. Lediglich Wein und etwas Magensäure. Glücklicherweise kein einziger Brocken von Mom oder Dad.
Unser Verhältnis war nicht immer so.
Sicher, wir hatten die üblichen Konflikte und Streitigkeiten, mit denen sich die meisten Eltern und Söhne herumschlagen müssen.
Hormone.
Das Ringen um Selbstständigkeit.
Verborgenes ödipales Verlangen.
Doch wenn der einzige Sohn von den Toten zurückkehrt, erzeugt das eine ganze neue Dynamik, auf die ein
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