Der leiseste Verdacht
nur genug Zeit blieb. Und Zeit war sein Hauptproblem. Warum war er nicht längst aus dem Haus? Er hätte schon unterwegs sein können. Wie viel Geld hatte er eigentlich? Mit fieberhafter Eile lief er zum Arbeitszimmer zurück, um die Geldkassette aufzuschließen.
Doch die Schublade seines Schreibtischs war bereits herausgezogen, und die Geldkassette stand sperrangelweit offen.
Wie angewurzelt blieb er auf der Schwelle stehen und begriff, dass er schon mehrmals kopflos durchs ganze Haus gerannt war, mit eben derselben Absicht. Unter Aufbietung all seiner Kraft widerstand er der Versuchung, auf der Stelle zu Boden zu sinken und sich einer lähmenden Verzweiflung zu überlassen. Wenn nur sein Kopf nicht so schrecklich schwer wäre. Wenn er nur ein paar Stunden schlafen könnte. Doch jetzt musste er fort! Auf der Stelle. Er warf das verdammte Handy, das immer noch keinen Laut von sich gab, auf einen Stuhl und unternahm einen ernsthaften Versuch, der Reihe nach alles zu durchdenken.
Da schrillte das Telefon und versetzte ihm einen Stich mitten ins Herz.
Wie gebannt starrte er auf das Handy, bis er begriff, dass das Klingeln vom anderen Apparat kam, der unter einem Berg von Papieren auf seinem Schreibtisch stand. Mit einer hastigen Bewegung schob er die Papiere beiseite und griff nach dem Hörer.
Es meldete sich eine träge Stimme mit breitem schonischen Dialekt: »Ich wollte nur fragen, ob ich heute auch rüberkommen soll.«
453
Rasend vor Zorn, unnötig aufgeschreckt und aufgehalten worden zu sein, brüllte er: »Wie rüberkommen? Wer ist da?«
»Rickard Svanberg«, antwortete sein Gesprächspartner gekränkt.
»Ich soll doch nach den Schweinen gucken, solange Nisse noch krank ist.«
Die Schweine … Es war wie die Erinnerung an einen fernen Traum.
»Ja … äh … das wäre schön«, sagte er in versöhnlichem Ton.
»Und vielleicht könnten Sie auch an den nächsten Tagen kommen. Ich muss kurzfristig verreisen.«
»Wann kommen Sie wieder?«
»Das kann ein bisschen dauern.« Plötzlich gab er einem absurden Gedanken nach. »Es wird sehr lange dauern. Sie können die Schweine behalten. Ich brauche sie nicht mehr.
Machen Sie mit ihnen, was Sie wollen.«
»Also … ich weiß nicht … Wann kommt denn die nächste Futterlieferung?«
»Das müssen Sie Nisse fragen. Ich habe jetzt keine Zeit mehr.«
Er knallte den Hörer auf die Gabel, ließ sich grübelnd auf einen Stuhl sinken und versuchte sich zu erinnern, was eben noch so wichtig gewesen war. Er musste verschwinden, richtig, doch da gab es ein paar Probleme …
Verdächtige Geräusche aus der Küche ließen darauf schließen, dass sich Cäsar mit etwas Essbarem versorgte. Das brachte ihn auf einen neuen Gedanken.
Hatte er den Hund gestern eigentlich gefüttert? Er konnte sich nicht daran erinnern. Gestern … war sie da gewesen. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein, dass sie bei ihm auf dem Sofa gesessen hatte. Danach hatte er Cäsar gefüttert, natürlich! Er hatte sich gut geschlagen, sie übrigens auch. Er sprang auf und 454
begann in den Papieren auf dem Schreibtisch zu wühlen. Er musste einen geeigneten Pass auswählen und die anderen verbrennen. Er musste alle Unterlagen verbrennen, die er nicht mitnehmen wollte. Er starrte unschlüssig auf die Papierhaufen um ihn herum und wurde von einer großen Müdigkeit ergriffen.
Aus der Küche war ein Lärm zu hören, als ginge dort massenhaft Geschirr zu Bruch. Mit einem zornigen Schrei lief er aus dem Zimmer. Erst mal musste er den verdammten Köter rausschmeißen, ehe der ihm das ganze Haus auf den Kopf stellte.
455
36
Ungefähr zur selben Zeit (zwischen 12 und 12.30 Uhr) Über der sonnenbeschienenen Hauptstraße von Äsperöd ruhte tiefer Frieden. Astrid Enoksson, die den Vormittag dazu benutzt hatte, ihre Gefriertruhen gründlich zu säubern, machte gerade eine wohl verdiente Kaffeepause hinter ihrer Ladentheke, als die Türglocke den ersten Kunden des Tages ankündigte. Es war Inga Jespersson. Astrids Gesicht leuchtete auf. Mehr Glück konnte man nicht haben, wenn man das Bedürfnis nach einem Plauderstündchen verspürte. Inga hatte wie immer viel auf dem Herzen, und an Einkäufe war nicht zu denken, ehe sie ihrem Ärger nicht Luft gemacht hatte. Sie stellte Korb und Einkaufstasche ab, setzte sich auf den Hocker, der neben der Theke stand, und brachte unvermittelt das Thema des Tages zur Sprache: Nisse Hallman. Für seinen verkommenen Lebenswandel und seine berüchtigte Halsstarrigkeit
Weitere Kostenlose Bücher