Der Maedchenmaler
wollen ja keinen Orden gründen, sondern nur ein Zimmer vermieten.«
Mike fühlte sich von allen Seiten beobachtet. Er wusste, dass die Jungen ihn beneideten. Jeder von ihnen wäre gern an seiner Stelle gewesen. Er begriff ja selbst nicht, was Ilka an ihm fand. Er war in jeder Hinsicht Durchschnitt. Nie hätte er zu hoffen gewagt, dass dieses Mädchen auch nur einen zweiten Blick an ihn verschwenden würde.
»Nimmst du mich mit zur Besichtigung?«
Warum nicht? Ilka hatte eine unglaublich intensive Ausstrahlung. Vielleicht würde ein bisschen davon auf ihn abfärben.
»Ich mische mich auch nicht ins Gespräch ein.«
Mike lachte und drückte sie an sich. »Klar kannst du mitkommen. Und misch dich ruhig ein. Vielleicht bringst du mir Glück. Vielleicht geben sie das Zimmer lieber einem Typen mit Freundin.«
»Vielleicht aber auch nicht.«
»Das riskiere ich.«
Sie waren am Klassenraum angekommen. Zweite Stunde. Mathe. Ilka hängte ihre Lebhaftigkeit mit Jacke und Mütze draußen am Kleiderhaken ab. Ein Ausdruck tiefer Konzentration legte sich auf ihr Gesicht. Sie nahm die Schule sehr ernst. Mike spürte, dass es einen Grund dafür geben musste, aber er hatte keine Ahnung, welchen.
Er wusste überhaupt sehr wenig von Ilka. Vor drei Jahren erst war sie in diese Schule gekommen. Wie aus dem Nichts. Ihre Eltern hatten einen Verkehrsunfall gehabt. Seitdem lebte Ilka bei ihrer Tante. Und das war schon fast alles, was er über sie erfahren hatte.
Sie sprach nicht über ihre Vergangenheit. Nur selten konnte Mike ihr eine Bemerkung entlocken. Es war, als gäbe es da einen Vorhang, den Ilka jedes Mal herunterließ, wenn er einen Schritt in die verbotene Richtung machte.
Mike packte nervös sein Mathebuch aus. Er fieberte der Besichtigung am Nachmittag entgegen. Gleichzeitig hatte er Angst davor. Wohngemeinschaften von Schülern waren in Bröhl nicht gerade dicht gesät. Hoffentlich gefiel ihm die Wohnung. Hoffentlich kam er mit den Mädchen zurecht. Und hoffentlich hatten sie kein Problem mit ihm.
Die Anzeige hatte distanziert geklungen. Nichts sagend eigentlich.
Mitbewohner für unsere WG gesucht.
Mehr nicht. Am Telefon hatte er sich mit einer Merle unterhalten. Sie war nicht sehr gesprächig gewesen. Er hatte lediglich erfahren, dass die Wohngemeinschaft zurzeit aus zwei Mädchen bestand, beide Schülerinnen am Erich-Kästner-Gymnasium, und dass sie definitiv einen männlichen Mitbewohner wollten.
Das hatte ihn irritiert. Andererseits konnte er sich Skepsis nicht leisten. Er hatte schon so lange nach einem bezahlbaren Zimmer gesucht, dass er diese Chance nicht verschenken durfte. Sie würden ihm den Grund schon verraten.
Er beugte sich zu Ilka hinüber, um die Uhrzeit mit ihr auszumachen. Doch dann bemerkte er, dass sie vor sich hinstarrte. Mit diesem Blick, den er so fürchtete. In solchen Momenten war sie unerreichbar. Auch für ihn.
Behutsam berührte er ihren Arm. Es war, als würde sie wach. Als kämen ihre Gedanken von weither zurück. Sie sah ihn an, schien sich langsam an ihn zu erinnern. Lächelte.
Mike bemühte sich, ebenfalls zu lächeln. In Wirklichkeit war ihm zum Heulen zumute. Er wollte nicht eifersüchtig sein. Wollte sich nicht den Kopf zerbrechen über ihre Gedanken. Aber das, was in ihm wühlte und grub, war dumpfe, hässliche Eifersucht, und er konnte nichts dagegen tun.
Kapitel 2
Imke Thalheim faltete einen Pulli zusammen und legte ihn in den Koffer. Sie hasste Packen. Sie hasste Abschiednehmen. Sie hasste es wegzufahren. Vor allem hasste sie es, woanders zu sein als zu Hause. Diesmal fiel es ihr besonders schwer. Jette war noch nicht so weit. Sie würde allein nicht zurechtkommen.
»Unsinn«, hatte Tilo gesagt, als sie mit ihm darüber gesprochen hatte. »Du solltest mehr Vertrauen zu deiner Tochter haben. Sie ist ein starkes Mädchen. Das hat sie dir und der ganzen Welt bewiesen.«
»Sie wäre beinahe ermordet worden, Tilo!«
Er hatte sie an den Schultern gefasst und sie eindringlich angesehen. »Es sind so viele Menschen da, die auf sie aufpassen. Niemand wird ihr etwas tun.«
»Es ist die erste Lesereise seit... seit...« Sie hatte Tilo die Arme um den Hals geschlungen.
»Ich weiß. Und ich verspreche dir, mich um Jette zu kümmern. Du kannst beruhigt fahren. Es wird nichts passieren, hörst du? Absolut nichts.«
Er hatte ihr den Rücken gestreichelt, und sie hatte gewusst, dass sie auch seinetwegen nicht wegfahren wollte. Auf einer Lesereise war sie der einsamste
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