0663 - Das Unheil erwacht
»Bitte, Jade, ich flehe dich an. Verlasse das Haus nicht. Es… es ist so dunkel draußen, und ich spüre, nein, ich weiß genau, dass dort etwas lauert. Es ist böse, und es wird von der Dunkelheit beschützt. Die Finsternis ist sein Freund, sie ist…«
Jade unterbrach ihre blinde und sehr besorgte Mutter mit einem hellen Lachen. »Aber Ma, was du immer hast! Las mich doch. Du weißt, dass ich die langen Spaziergänge an kühlen Herbstabenden liebe. Das ist für mich eine Erholung. Ich brauche die Natur, ich brauche die Stille, ich will einfach ich selbst sein.«
Obwohl Alma Prentiss nichts sehen konnte, nickte sie. Es hatte im Prinzip keinen Sinn, ihrer Tochter etwas auszureden. Jade würde ihren Kopf immer durchsetzen, doch als Mutter fühlte sie sich einfach verpflichtet, ihr die Sorgen mitzuteilen. Möglicherweise half es ein wenig.
Dass draußen nicht alles geheuer war, davon ging sie aus. Sie hatte es nie gesehen, nur gespürt. Ihre anderen Sinne waren geschärft worden.
Alma Prentiss gehörte zu den sehr sensiblen und sensitiven Menschen, die jeden Einfluss, sei er positiv oder negativ, sofort aufnahmen.
Ihr kleines Haus lag wunderschön, nahe am Wald. Das bedeutete Ruhe, keine Hektik, keinen Stress. Es war allerdings auch gefährlich, denn auch die Nacht besaß viele Augen, die das unter Kontrolle hielten, was tief im Dickicht verborgen blieb.
Das Böse eben…
Ein grauenvolles Etwas, furchtbar anzusehen, wie Alma Prentiss wusste, obwohl sie es nicht gesehen hatte. In ihren Träumen aber hatte sie es erkannt. Es war sehr groß und oval.
Sie hatte nie konkret mit ihrer Tochter darüber gesprochen, weil sie Jade nicht Angst machen wollte, an diesem Abend wollte sie es tun, denn die Gefahr hatte sich verdichtet, sie war einfach stärker geworden und würde über sie herfallen, wenn sie nicht achtgab.
Am Schleifen des Stoffs hörte Alma, wie ihre Tochter den Mantel überstreifte. Sie stand im Flur, umgeben von den Holzwänden, die bei warmem Wetter einen so natürlichen Geruch abgaben und bei kalter Witterung die Wärme im Haus hielten und schützten.
»Einen Moment noch, Kind.«
Jade wusste genau, dass sie jetzt nicht gehen konnte. Am Klang der Stimme hatte sie erkannt, dass ihre Mutter unbedingt mit ihr reden wollte. Wahrscheinlich hatte sie etwas auf dem Herzen, das sie einfach loswerden musste.
Mit sehr bedächtigen Schritten betrat Jade den Wohnraum, der nach den Vorstellungen ihrer Mutter eingerichtet worden war. Er enthielt keine modernen Möbeln, sondern die Möbel, die Alma Prentiss von ihren Eltern bekommen hatte.
Das Sofa, der Schrank, der Tisch, auch die Stühle - sie alle waren für die Ewigkeit gebaut und so leicht nicht zu zertrümmern. Außerdem hatte sich Alma Prentiss an die Gegenstände gewöhnt, sie würde die Einrichtung niemals wechseln wollen.
Wie immer hatte sie ihren Platz in dem alten Schaukelstuhl gefunden, der dem TV-Gerät direkt gegenüberstand, obwohl Alma nicht sehen konnte, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Für sie war es einfach nur wichtig, den Platz einzunehmen.
Die Frau trug ein violettes Kleid. Auf dem Stoff verteilten sich helle Punkte. Am Hals war es hochgeschlossen, über die Schultern hatte Alma eine helle Strickjacke gehängt, deren Farbe im glatten Gegensatz zu den dunklen Gläsern der Brille stand.
Das Gesicht zeigte zwar keine jugendliche Frische mehr, auch besaß das Haar nicht mehr die ursprüngliche rötlichblonde Farbe, es hatte einen Stich ins Graue bekommen. Noch immer wirkte Alma sehr jung und auch irgendwie zerbrechlich.
»Was ist denn, Mutter?«
Alma Prentiss bewegte unruhig ihre Hände. »Das Böse ist sehr nahe, Tochter. Ich würde dir raten, sehr achtzugeben. Es hat sich entwickelt, es ist alt, jemand hat es zurückgelassen, das mußt du mir glauben. Komm näher, ich möchte deine Hände umfassen.«
Jade wunderte sich. So besorgt hatte sie ihre Mutter lange nicht mehr erlebt. Sie kannte ja deren Ahnungen, sie wusste genau Bescheid, aber so wie sie jetzt redete, hatte sie schon lange nicht mehr gesprochen. Ihre Hände umfassten die Finger der Tochter, streichelten sie.
Jade stand vor ihr, sie legte den Kopf zurück, als wollte sie ihre Tochter anschauen. »Sei vorsichtig, Kind. Sei nur vorsichtig, das mußt du mir versprechen.«
Jade lächelte unsicher. Bisher hatte ihre Mutter in Rätseln gesprochen, und sie wollte wissen, wovor sie sich in achtnehmen sollte.
»Vor dem Bösen, Kind…« Die Antwort war nur mehr ein Flüstern,
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