Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Aufgabe der Bildung darin sah, die leider in der Welt vorhandenen rohen Gegensätze in Harmonie miteinander zu bringen; mit einem Wort, er war vielleicht gar nicht so sehr verschieden von dem, was man noch heute – allerdings nur dort, wo man an der großen bürgerlichen Ueberlieferung festhält, – unter einem gediegenen und sauberen Idealismus versteht, der ja sehr zwischen Gegenständen unterscheidet, die seiner würdig, und solchen, die es nicht sind, und aus Gründen der höheren Humanität keineswegs an die Überzeugung der Heiligen (und der Ärzte und Ingenieure) glaubt, daß auch in den moralischen Abfällen unausgenützte himmlische Heizkraft stecke. Wenn man Diotima früher aus dem Schlaf geweckt und gefragt hätte, was sie wolle, so würde sie, ohne sich besinnen zu müssen, geantwortet haben, die Liebeskraft einer lebendigen Seele habe das Bedürfnis, sich aller Welt mitzuteilen; aber nach einigem Wachsein würde sie es durch die Bemerkung eingeschränkt haben, daß man in der heutigen Welt, wie sie durch Überwuchern von Zivilisation und Verstand geworden sei, allerdings selbst bei den höchsten Naturen vorsichtigerweise nur noch von einem der Liebeskraft analogen Streben sprechen könne. Und sie würde es wirklich so gemeint haben. Es gibt noch heute Tausende solcher Menschen, die den Verstäubern von Liebeskraft gleichen. Wenn Diotima sich zum Lesen ihrer Bücher hinsetzte, so strich sie das schöne Haar aus der Stirn, was ihr ein logisches Ansehen gab, und sie las mit Verantwortungsbewußtsein und in dem Bestreben, sich aus dem, was sie Kultur nannte, eine Hilfe in der nicht leichten gesellschaftlichen Lage zu bilden, in der sie sich befand; so lebte sie auch, sie verteilte sich in kleinen Tröpfchen feinster Liebe an alle Dinge, die es verdienten, schlug sich als Hauch, in einiger Entfernung von sich selbst an diesen nieder, und für sie selbst blieb eigentlich nur die leere Flasche des Körpers zurück, die zum Hausstand des Sektionschefs Tuzzi gehörte. Das hatte vor dem Eintreffen Arnheims zuletzt zu Anwandlungen schwerer Melancholie geführt, als Diotima noch allein zwischen ihrem Gatten und der größten Ausstrahlung ihres Lebens, der Parallelaktion gestanden war, seither hatte sich aber ihr Zustand in einer sehr natürlichen Weise neu gruppiert. Die Liebeskraft hatte sich kräftig zusammengezogen und war sozusagen in den Körper zurückgekehrt, und aus dem »analogen« Streben war ein sehr selbstisches und eindeutiges geworden. Jene, zuerst von ihrem Vetter hervorgerufene Vorstellung, daß sie sich im Vorzustand einer Tat befinde und daß etwas, das sie sich noch nicht vorstellen wollte, im Begriffe sei, zwischen ihr und Arnheim zu geschehen, besaß einen so viel höheren Konzentrationsgrad als alle Vorstellungen, die sie bisher beschäftigt hatten, daß sie nicht anders empfand, als wäre sie vom Traum zum Wachen übergegangen. Auch eine Leere, wie sie diesem Übergang im ersten Augenblick eigentümlich ist, war dadurch in Diotima entstanden, und sie vermochte sich aus Beschreibungen zu erinnern, daß das ein Zeichen beginnender großer Leidenschaften sei. Sie glaubte vieles, was Arnheim in letzter Zeit gesprochen hatte, in diesem Sinn verstehen zu können. Seine Berichte über seine Stellung, über die für sein Leben nötigen Tugenden und Pflichten waren Vorbereitungen auf etwas Unabwendbares, und Diotima fühlte, alles betrachtend, was bisher ihr Ideal gewesen war, den geistigen Pessimismus der Tat, so wie ein Mensch, dessen Koffer gepackt sind, einen letzten Blick auf die schon halb entseelten Räume wirft, die ihn jahrelang beherbergt haben. Unerwarteterweise hatte das zur Folge, daß Diotimas Seele, vorübergehend ohne Aufsicht der höheren Kräfte, sich wie ein ausgelassener Schuljunge benahm, der so lange umhertollt, bis ihn die Traurigkeit seiner sinnlosen Freiheit befällt, und durch diesen merkwürdigen Umstand trat in ihren Beziehungen zu ihrem Gatten, trotz zunehmender Abwendung für kurze Zeit etwas ein, das, wenn nicht einem Spätliebesfrühling, so doch einer Mischung aus allen Jahreszeiten der Liebe befremdlich ähnlich sah.
Der kleine Sektionschef mit dem angenehmen Geruch einer braunen, trockenen Haut begriff nicht, was vor sich ging. Es war ihm einigemal aufgefallen, daß seine Frau während der Anwesenheit der Gäste einen eigenartig verträumten, in sich gekehrten, fernen und hochnervösen Eindruck mache, wirklich nervös und irgendwie hoch abwesend zugleich; aber wenn
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