Der Nachtzirkus
Man kann ihr Parfüm im Wolkenlabyrinth riechen. Es ist fabelhaft.«
»Gefangen zu sein, findest du fabelhaft?«
»Das ist eine Frage der Perspektive«, sagt Widget. »Sie haben einander. Sie sind an einen bemerkenswerten Ort gebunden, der um sie herum wachsen und sich verändern kann und wird. In gewisser Weise gehört ihnen die Welt, die nur durch seine Phantasie begrenzt wird. Marco hat mir seine Zaubertechnik beigebracht, aber ich beherrsche sie noch nicht. Deshalb, ja, ich finde es fabelhaft. Für ihn waren Sie wie ein Vater, wissen Sie das?«
»Hat er dir das gesagt?«, fragt der Mann im grauen Anzug.
»Nicht mit Worten«, antwortet Widget. »Ich durfte ihn lesen. Ich sehe den Menschen ihre Vergangenheit an, manchmal in allen Einzelheiten, wenn die betreffende Person mir vertraut. Er vertraut mir, weil Celia es auch tut. Ich glaube nicht, dass er es Ihnen noch verübelt. Schließlich verdankt er Celia Ihnen.«
»Ich habe ihn als Gegensatz und Ergänzung zu ihr ausgewählt. Vielleicht war meine Wahl zu gut.« Der Mann im grauen Anzug beugt sich vor, verfällt jedoch nicht in verschwörerischen Flüsterton. »Das war der Fehler, verstehst du? Sie haben sich zu gut ergänzt. Waren zu sehr voneinander angetan, um gegeneinander anzutreten. Und jetzt können sie nie wieder getrennt werden. Schade.«
»Sie sind wohl kein Romantiker«, sagt Widget und nimmt die Weinflasche, um sich nachzuschenken.
»In meiner Jugend war ich es. Aber das ist sehr lange her.«
»Das sieht man«, sagt Widget. Der Mann im grauen Anzug reicht weit in die Vergangenheit zurück. Weiter als alle, die Widget kennt. Er kann seine Geschichte nur teilweise lesen, so vieles davon ist abgenutzt und verblasst. Die mit dem Zirkus verbundenen Teile sind am klarsten und leichtesten für ihn zu erkennen.
»Sehe ich so alt aus?«
»Sie haben keinen Schatten.«
Der Mann im grauen Anzug lächelt, verzieht zum ersten Mal an diesem Abend die Miene.
»Du bist sehr scharfsichtig«, sagt er. »Das fällt vielleicht nur einem unter hundert oder gar unter tausend ins Auge. Ja, ich bin in einem ziemlich fortgeschrittenen Alter. Und habe im Leben viel gesehen. Einiges davon würde ich lieber vergessen, denn letztlich fordert es seinen Tribut. In gewisser Weise fordert alles seinen Tribut. Genau wie alles mit der Zeit verblasst. Ich bin da keine Ausnahme von der Regel.«
»Werden Sie genauso enden wie er?« Widget nickt in Richtung des Fensters.
»Ich hoffe doch nicht. Ich füge mich ohne Groll Dingen, die unvermeidlich sind, auch wenn ich Mittel und Wege habe, sie eine Weile aufzuschieben. Er hat Unsterblichkeit gesucht, und das ist ein furchtbares Unterfangen – keine Suche, sondern das Ausweichen vor dem Unausweichlichen. Er wird diesen Zustand verabscheuen, falls er es nicht schon tut. Ich hoffe, meinem Schüler und deiner Lehrerin ist ein glücklicheres Schicksal beschert.«
»Sie meinen … Sie hoffen, dass sie sterben können?«, fragt Widget.
»Ich will nur sagen, dass ich hoffe, sie finden die Dunkelheit oder das Paradies, ohne sich davor zu fürchten.« Er verstummt und fügt dann hinzu: »Das hoffe ich auch für dich und deine Weggefährten.«
»Danke«, sagt Widget, ohne ganz zu wissen, ob er den Gedanken richtig verstanden hat.
»Ich habe damals die Wiege geschickt, um dich und deine Schwester auf dieser Welt willkommen zu heißen, da ist es jetzt wohl das mindeste, euch einen angenehmen Abgang aus ihr zu wünschen, weil ich vermutlich nicht mehr da sein werde, um euch persönlich zu verabschieden. Das hoffe ich jedenfalls.«
»Ist die Magie als Lebensinhalt denn nicht genug?«, fragt Widget.
»Die Magie«, sagt der Mann im grauen Anzug und lacht. »Das ist doch keine Magie. Das ist die Welt, so wie sie ist, nur dass die wenigsten Menschen innehalten und es bemerken. Sieh dich um«, sagt er und zeigt auf die Tische ringsum. »Nicht einer von ihnen ahnt auch nur, was in dieser Welt möglich ist, und noch schlimmer, niemand von ihnen würde dir zuhören, wenn du versuchtest, sie aufzuklären. Sie wollen glauben, dass Magie nichts als schlaue Täuschung ist, denn sie als real anzusehen würde bedeuten, dass sie nachts nicht mehr schlafen können und Angst vor der eigenen Existenz haben.«
»Aber manche Leute kann man aufklären«, sagt Widget.
»O ja, solche Dinge kann man lehren. Es ist leichter, wenn es sich um jüngere Köpfe handelt als diese hier. Natürlich gibt es Tricks. Nicht diesen Unsinn mit den Kaninchen in Hüten,
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