Der Schatten im Norden
Bruders auf
eine Karte.
»Es geht ihm schlecht«, sagte sie zögernd, »im
Vergleich zu ihm geht es mir gut. Mein Mann ist
Oberbuchhalter beim Holzhandelsunternehmen Howson
& Tomkins, wir leiden keine Not. Und mein Bruder
kommt allmählich in die Jahre... Ich will damit sagen,
dass ich aus den gleichen bescheidenen Verhältnissen
stamme und das nicht vergessen habe. Wir waren arm,
aber es gab immer Bücher im Haus, auch Zeitschriften --- Der Christliche Hausfreund und dergleichen -kurz,
Bildung hatte für uns einen Wert. Deswegen habe ich
auch in der Sonntagsschule unterrichtet. Und was Sidney
ohne den Arbeiterbildungsverein tun würde, das kann ich
mir nicht vorstellen... Aber ich schweife ab. Eines steht
jedenfalls fest, irgendetwas stimmt da oben im Norden
nicht, Miss Lockhart, aber ich weiß nicht was. Hier ist
die Adresse. «
Sie gab Sally die Karte.
»Seien Sie bitte vorsichtig«, mahnte sie. »Aber Sie sind
ja erfahren in solchen Dingen. Ich schreibe Sidney und
sage ihm Bescheid. Aber mir ist bei der ganzen Sache
nicht wohl, das verhehle ich nicht. Sie werden ihn doch
nicht in Schwierigkeiten bringen?«
Sally versprach ihr, das keineswegs zu tun. Dann
verabschiedete sie sich und ging in die Burton Street.
Sie war unschlüssig, ob sie hineingehen sollte oder
nicht, doch das dauerte nur einen Augenblick. Bei den
Fotografen herrschte ziemliche Unordnung, die Gipser
verließen gerade die neuen Atelierräume, aber die Glaser
waren noch nicht gekommen. Webster führte eine
lautstarke Diskussion mit dem Vorarbeiter der
Raumausstatterfirma. Frederick kam gerade mit
belichteten Platten aus dem alten Atelier. »Hallo«, sagte
er knapp.
»Ich war bei Mrs. Seddon«, sagte sie im gleichen
nüchternen Ton. »Ich weiß jetzt, was North Star für eine
Firma ist. Hast du viel zu tun?«
»Ich muss die Platten nur schnell Mr. Potts bringen. Jim
ist in der Küche. «
Sie ging durch den Laden und traf Jim auf der
Küchenbank vor einem Stapel Papier und einem
Tintenfass. Er schob alles beiseite, als sie eintrat, und
schaute sie an.
»Hallo Sally, was gibt's Neues?«, fragte er zur
Begrüßung. »Das sage ich dir gleich, wenn Fred auch
kommt... Wie geht es deinem Zahn?«
Er verzog das Gesicht. »Mein strahlendes Lächeln ist
dahin«, sagte er gequält. »Es tut nicht mehr so weh,
obwohl immer noch einzelne Splitter aus dem
Zahnfleisch hochkommen. Wenn ich dem Kerl noch mal
die Nase eindrücken könnte, das täte mir gut... « »So, da
bin ich, worum geht es denn?«, fragte Frederick und
machte die Tür hinter sich zu.
Sally berichtete, was sie von Mrs. Seddon erfahren
hatte. Als sie fertig war, pfiff Jim durch die Zähne, was
jetzt noch besser ging.
»Darauf ist er also aus!«, sagte er »Kanonen auf
Eisenbahnwagen... «
»Ganz sicher bin ich nicht«, schwächte Sally ab.
»Walker und Söhne waren Lokomotivhersteller, keine
Wagenbauer. Und dieser Hopkinsonsche Selbstregulator
scheint etwas mit Dampf zu tun zu haben. Einer von uns
muss in den Norden reisen und das herausfinden. Ich
habe Mr. Patons Adresse. « Sie schaute Frederick an.
»Könntest du... «
Er sagte eine Weile nichts, dann aber: »Ja, ich könnte
schon. Aber warum gerade ich? Ich hätte gedacht, du
seist geeigneter, da du ja schon den ersten Kontakt
hergestellt hast. Im Übrigen weißt du sehr viel mehr über
Feuerwaffen als ich. «
Sie errötete. »Wenn es darum geht, mit Leuten zu reden,
bin ich nicht so gut. Und in diesem Fall ist viel
Detektivarbeit nötig. Man müsste von den Leuten ganz
bestimmte Auskünfte erhalten. Das kannst du von uns am
besten, deshalb solltest du es machen. « In ihren Worten
schwang noch eine andere Bedeutung mit, von der sie
hoffte, dass ihre Augen sie ausdrückten. Sie spürte die
Hitze in ihren Wangen, aber sie schaute ihm gerade ins
Gesicht. Er nickte, dann schaute er auf die Uhr. »Halb
elf. Jim, kannst du mir mal das Kursbuch rüberreichen?«
Im Nu hatte er festgestellt, dass der nächste Zug in den
Norden in etwas mehr als einer halben Stunde vom
Bahnhof King's Cross abfuhr. Während Jim eine
Droschke holen ging und Frederick seinen Koffer packte,
fasste Sally in ein paar Zeilen zusammen, was sie von
Mrs. Seddon erfahren hatte, und schrieb Mr. Patons
Adresse darunter. Dann hielt sie inne, aber noch ehe sie
etwas hinzufügen konnte, kam Frederick mit Hut und
Mantel herein. Sie faltete den Zettel und gab ihn ihm.
»Welchen Tag haben wir heute? Donnerstag? Ich sehe
mich da oben ein bisschen um, mal sehen, was ich noch
alles
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