Der Schlangenmensch
„Jemand schlich von hinten an Sie heran. Ich sah, wie er die
Faust hob. Offenbar wollte er Sie niederschlagen. Dann hätte er Sie
ausgeraubt.“
„Oh!“ sagte der Mann.
„Verdammt! Ist auch diese Gegend schon so unsicher? Hast du den Kerl erkannt?“
Tarzan lachte. „Da hätte sich
sogar eine Eule schwer getan. Man sieht ja nicht die Hand vor Augen. Ich könnte
nicht mal sagen, ob Sie ein Neger oder ein Eskimo sind. Allerdings ist mir eins
aufgefallen: Der Kerl hatte hellblondes Haar.“
„Dann weiß ich Bescheid. Der
saß auch in der Kneipe dort hinten, wo ich gerade herkomme. Wahrscheinlich hat
er beobachtet, wie ich rausgewankt bin. Der dachte, ich bin blau und er hätte
leichtes Spiel. Aber ich bin nicht betrunken. Ich habe nur ein Bier gehabt. Die
Flasche hier wäre das zweite gewesen. Aber mir ist furchtbar elend — du weißt
nicht, wie das ist, Junge, wenn man sich vor Kummer kaum auf den Beinen halten
kann.“
Stöhnend sank er wieder auf die
Bank.
„Ich helfe Ihnen“, sagte
Tarzan. „Ich bringe Sie nach Hause.“
„Nein, nein“, wehrte der Mann
ab. „Das schaffe ich schon. Ich hab’s nicht weit. Was ich brauche, ist frische
Luft. Der Blonde kommt nicht wieder. Nochmal traut der sich nicht. Außerdem bin
ich jetzt dank deiner Umsicht gewarnt.“
„Hm. Wenn Sie meinen.“
Tarzan holte sein Rad hinter
dem Busch hervor.
„Vielen Dank, daß du mir
geholfen hast“, sagte der Mann. „Warte mal, ich habe doch...“
Offenbar hielt er sein Portemonnaie
in der Hand. Münzen klimperten, als er eine Belohnung zusammensuchte.
„Sie glauben doch nicht im
Ernst“, sagte Tarzan, „daß ich mir so eine Selbstverständlichkeit bezahlen
lasse. Gute Nacht, mein Herr! Und gute Besserung!“
Als er weiterfuhr, rief ihm der
Mann nach: „Nochmals Dank, Junge! Von deinem Schlag müßte es mehr geben.“
Lieber nicht! dachte Tarzan. Das wäre sonst der totale Nervenzusammenbruch all
unserer Steißtrommler.
Hinter dem Park folgte er einem
Fußweg am Bach. Der stieß auf die Landstraße, die zur Internatsschule führte.
Tarzan fuhr schnell. Unter den
Chausseebäumen jagte er dahin. Rechts und links lagen Felder, auf denen die
Bauern Jauche verstreut hatten. Würzige Landluft wehte ihm von allen Seiten
entgegen.
Er erreichte die Schule, fuhr
durchs Tor bis zum Fahrradkeller und stellte sein Rad an die Wand. In den
Keller konnte er es nicht bringen. Um diese Zeit hatte Hausmeister Mandl längst
abgeschlossen. Vorsichtshalber sicherte Tarzan sein Rad mit dem Kabelschloß.
Dann lief er zum Eingang des
Hauptgebäudes. Auch dort waren die Schotten dicht. Aber da er offiziell Ausgang
hatte, nahm er nicht den sonst üblichen Weg durchs Fenster — wozu er freilich
Seil oder Strickleiter benötigte — , sondern er drückte den Daumen auf die
Klingel.
Während er wartete, blickte er
in die Dunkelheit.
Jetzt sah man nichts von den
zahlreichen Gebäuden, die auf dem großen Schulgelände standen: den Grünanlagen,
der Turnhalle, dem Schwimmbad, dem Sportplatz und den Dienstwohnungen der
Lehrer.
Aber sicherlich befindet sich
alles noch an derselben Stelle wie vorhin, dachte Tarzan lächelnd.
Um sich gegen Felder und Wiesen
abzugrenzen, war das Schulgelände mit einer — nun schon jahrzehntealten — Mauer
umgeben.
Die Tür wurde geöffnet.
Studienrat Böckler sagte: „Das
dachte ich mir doch.“
„Entschuldigen Sie, daß ich zu
spät komme. Aber...“
„Verdammt nochmal! Weshalb
glaubst du, gibt es Uhren und die Hausordnung? Für dich war um halb elf
Zapfenstreich — auch wenn Samstag ist.“
„...aber ich wurde in einen
Überfall verwickelt“, beendete Tarzan den Satz. „Das hat mich aufgehalten.“
„Wie bitte?“
Böckler rückte an seiner
Hornbrille. Er war klein und behende, litt das ganze Jahr unter Schnupfen und
auch darunter, daß seine Frau anderthalb Köpfe größer war als er. Wenn sie
nebeneinander gingen, hielt er mindestens zwei Meter Abstand — um nicht zu
steil zu ihr aufblicken zu müssen.
„Du willst sagen“, meinte
Böckler, „du wurdest in einen Überfall verwickelt?“
„So ähnlich würde ich es
ausdrücken“, erwiderte Tarzan. „Aber Sie sagen es treffender. Tja, tut mir
leid. Ich weiß: So was passiert immer nur mir. Aber ich kann nichts daran
ändern. Es scheint mein Schicksal zu sein.“
Böckler schnüffelte, zog hoch,
griff aber dann doch zum Taschentuch. „Du wurdest also überfallen?“
„Nicht ich, sondern... Oh!“
Erst jetzt wurde ihm
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