Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (German Edition)
und bitten sie, Fürsprache für sie beim Herrn einzulegen, auf daß Er sie nicht verdamme. Das Hadith ist ähnlich aufgebaut wie «Das Buch der Leiden»: Jeder Abschnitt beginnt damit, daß die Suchenden den jeweiligen Propheten zunächst preisen. Die Propheten enttäuschen sie mit der Auskunft, selbst in Nöten zu sein und den Zorn des Herrn zu fürchten. Erst Mohammed hilft den Gläubigen: Er legt Fürsprache für sie beim Herrn ein, und der Herr nimmt die Fürsprache an.[ 12 ]
Das Hadith von der Fürsprache dürfte allerdings nur eine von mehreren literarischen Vorlagen gewesen sein, die Attar für seine poetische Reise durch den Kosmos verwandte: Die Seele, die durch Himmel und Hölle fliegt – vorgebildet in Parmenides’ (um 500 v. Chr.) Lehrgedicht «Über die Natur», den «Wahren Geschichten» Lukians von Samosata (gest. Ende 2. Jahrhundert) und dem Seelenmythos in Platons (gest. 347 v. Chr.) «Phaidon» –, ist eines der wichtigsten und faszinierendsten Topoi in den Literaturen des Orients. Auch die Merkaba-Mystik, die sich zwischen dem 3. und 5. Jahrhundert unter den Juden Palästinas herausbildete, schildert den Aufstieg der Seele, die von der Erde durch die verschiedenen Sphären hindurch zur Lichtwelt Gottes heimfindet.[ 13 ] Islamisch setzt sich der Topos der Himmelsreise fort mit Mohammeds koranischer Nachtfahrt (mirāg), die im anonymen «Buch von der Himmelreise» (Kitāb al-Mirāg) mitsamt ihren volkstümlichen Ergänzungen geschildert wird.[ 14 ] Abgesehen von Bayezids bereits erwähnter Vision, sei noch verwiesen auf al-Maarris endlich übersetzte Jenseitsreise aus dem «Sendschreiben über die Vergebung», Avicennas philosophischen Traktat «Salaman und Absal» und seine Erzählung «Hayy ibn Yaqzan»,[ 15 ] die hebräisch bei Abraham ibn Ezra (gest. 1167) als «Hayy ben Meqis» wiederkehrt, auf Ibn Arabis (gest. 1240) «Buch der Himmelsreise» (Kitāb alisrā) sowie auf «Die Vogelgespräche» in ihren verschiedenen Varianten. Die europäische Literatur nimmt die Vorstellung der kosmischen Seelenreise mit Dantes (gest. 1321) «Göttlicher Komödie» auf. Später taucht sie auf in Miltons (gest. 1674) «Verlorenem Paradies» sowie Johann Amos Comenius’ (gest. 1670) «Labyrinth der Welt und Das Paradies des Herzens» aus dem 17. Jahrhundert, in Henry Fieldings (gest. 1754) «Reise von dieser in die andere Welt», Goethes Faust II oder auch in Thomas Manns Schilderung von Josephs Himmelsreise oder Gerhart Hauptmanns Großem Traum. Das Märchen in Georg Büchners Woyzeck vom armen Kind, das keinen Vater und keine Mutter mehr hatte, liest sich beinah wie eine Miniaturfassung von Attars «Buch der Leiden»:
Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt, und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt, und da sitzt es noch und ist ganz allein.[ 16 ]
Die Wege dieses auch für Europa also höchst ergiebigen Topos sind inzwischen mindestens zum Teil offengelegt, obgleich manche Romanisten skeptisch auf die Forschungen über die arabischen Ursprünge von Dantes «Göttlicher Komödie» reagiert haben – skeptisch, nicht selten sogar mit der ausgestellten Ignoranz derer, für die nicht ist, was nicht sein darf. Im Schlüsseltext europäischer Identitätsfindung durfte die arabisch-islamische Kultur allenfalls als Fußnote vorkommen, keinesfalls als zentrales Element. Wahrscheinlich hat Dante das islamische «Buch von der Himmelsreise», das von dem jüdischen Arzt Abraham al-Faquim (gest. 1284) ins Altspanische und aus dieser spanischen Version von Bonaventura de Siena ins Lateinische und Französische übersetzt worden ist (mit dem Titel Libro della Scala) nicht nur gekannt, sondern als Vorlage benutzt, als er seine «Göttliche Komödie» verfaßte (was ihn nicht daran hinderte, Mohammed einen Platz in der Hölle zuzuweisen); eine andere Quelle, auf die er zurückgegriffen haben könnte, ist die genannte hebräische Fassung von Avicennas Hayy ibn Yaqzan .[ 17 ] Die Frage, ob und, wenn ja, welche Übersetzungen Dante vorgelegen haben, ist aber nicht einmal die entscheidende. Die
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