Der Schrecken verliert sich vor Ort
eine versäumte Unterrichtsstunde. Man kann die Einzigartigkeit, die Hölle überlebt zu haben, nicht teilen. In diesem Buch sind Taten beschrieben, zu denen ein Mensch nicht fähig sein sollte und wir haben nie gedacht, dass Menschen dazu fähig sind.
Die Täter waren offenbar in der Lage, ihr Einfühlungsvermögen abzustellen wie einen leckenden Wasserhahn. Sie besaßen eine Unfähigkeit der Einfühlung, was die Mitmenschlichkeit betrifft, eine fürchterliche Kälte, entstanden aus absolut kranken Vorurteilen und wirren Projektionen. Ich kenne keine Täterbiografie, die auf der Couch landete.
Der Roman beschreibt Menschen, die mit makabrem Witz, Humor, Zynismus, Verdrängung, zwanghaftem Erzählen-Müssen und nicht abzustellenden Assoziationen – Rampe, Gas, Schornstein, Stacheldraht – versuchen, das Leben nach Auschwitz zu meistern. Der Blick auf diese Menschen, unser Blick, geschieht über Lena, Heiners Liebe und Ehefrau und ihren immer neuen Anläufen, neben ihm zu bestehen. Verglichen mit Heiners Erinnerung an die Boger-Schaukel, dieses barbarische Folterinstrument, ist ihr Sturz als Kind von der Schaukel nur ein kleiner Schmerz – aber ist er deshalb weniger wert? Lena ist eifersüchtig auf die Zärtlichkeit, mit der die Überlebenden miteinander umgehen – ist sie deshalb verrückt? Natürlich ist sie nicht verrückt. Sie ist ja nicht eifersüchtig auf die Geschichte, nicht auf die Qualen, sie ist eifersüchtig auf Menschen, die eine andere Innigkeit des Sich-Eins-Fühlens haben. Lena gehört nicht dazu, sie ist außen und wird immer außen bleiben und deswegen ist sie eifersüchtig, das wäre ich auch. Sie kann nicht zur Gemeinde der Unsterblichen gehören, weil sie kein Opfer mehr werden kann. Gott sei Dank.
Lena kämpft an Fronten, von denen sie nichts ahnte, als sie sich in ihren Heiner verliebte. Warum stellt er die Bilder ihrer Silberhochzeit zur Lagerliteratur? Sie will nicht in seiner Auschwitz-Ecke stehen – warum versteht er das nicht? Jeder hat sein Leben und zum Glück haben sie etwas Drittes: Eine Liebe, die den Kampf lohnt.
Was geschehen ist, ist geschehen, ausgeübt von einem Kulturvolk. Und dass es geschehen ist, bedeutet, dass es wieder geschehen kann. Menschen, und zwar kultivierte, kluge Menschen, sind zu Taten fähig, die wir ihnen nicht zugetraut haben. Und wo es irgendein Anzeichen, einen Hauch davon wieder geben könnte, müssen wir eingreifen. Unsere gottverdammte Pflicht nach Auschwitz ist, das niemals zu vergessen. Es bleibt ein ewiges Thema. Ich glaube nicht, dass wir aufhören sollten, uns damit zu beschäftigen.
Margarete Mitscherlich, im Mai 2012
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