Der Strandlaeufer
und ging mit einem Badetuch bewaffnet zur weißen Stadt. Ich war so müde, dass ich zum Meer hinunterstieg und mich in den Sand legte. Ich musste eine Weile geschlafen haben. Als ich aufwachte, füllte sich der Strand gerade mit Menschen. Es wurde jetzt von Tag zu Tag wärmer. Ich blieb liegen und sah dem Treiben der Leute zu. Junge Männer spielten Ball. Ihr Geschick, ihn allein mit den Füßen in der Luft zu halten, war außerordentlich.
Ich hoffte insgeheim, Carla zu sehen. Sie war oft bei Sonnenaufgang am Meer und machte gymnastische Übungen, die etwas Kultisches hatten. Sie breitete die Arme parallel zum Horizont aus und verneigte sich mehrmals tief in Richtung Sonne. Manchmal war ein drahtiger, junger Kerl mit langen Haaren und eingeflochtenen Wollzöpfen bei ihr. Die beiden stritten sich häufig lautstark und umarmten sich dann. Auch das hatte etwas von einem Ritual.
Die Ersten, die an diesem Tag ins Wasser gingen, waren Touristen, vor allem die korpulenten unter ihnen, denen die kalte See nichts anzuhaben schien. Dicke Frauen trieben durchs Wasser, als hätten sie keinen Unterleib. Pärchen balzten ungeniert. Voyeure beobachteten sie dabei. Die ersten Bauchladenverkäufer erschienen, ebenholzschwarze Afrikaner mit ihren Quarzuhren, Sonnenbrillen und billigem Schmuck. Sie gingen von Paar zu Paar, blieben stehen und klappten ihr Tablett voller Ware auseinander. Es fiel schwer, sie loszuwerden, arme Teufel, die vermutlich in der Hand der Mafia waren.
Am wenigsten missfielen mir die kleinen Kinder, die im Sand spielten. Sie saßen oft mit dem Rücken zum Meer und würdigten es keines Blickes, waren immun gegen die Erhabenheit, mit der es in der Sonne ausgebreitet dalag wie das Goldene Vlies, vom Wind nur leicht bewegt und mit geheimnisvollen Hieroglyphen bestickt, die Leute wie ich vergeblich zu lesen versuchten.
Auch die bunten Schirmpilze der Lidos wuchsen jetzt wieder aus dem Sand. Man kann sie zusammen mit einem Liegestuhl mieten, um sich gegen die Sonne zu schützen und über ein eigenes kleines Revier zu verfügen, innerhalb dessen man gewöhnlich in jenen Zustand verfällt, der einer Entleerung von Hirn und Seele gleicht, verursacht durch Hitze und das gleichmäßige Plätschern der kleinen Wellen.
Ich kaufte einem der fliegenden Händler eine Sonnenbrille ab. Nicht weit von mir lag eine junge Frau auf einer Decke. Sie war schön und braun gebrannt. Sie trug nur eine winzige weiße Badehose; ihre Brüste waren nackt. Hin und wieder setzte sie sich auf und sah aufs Meer hinaus. Zu ihr gehörte ein kleiner Junge von höchstens drei Jahren, der sie wie ein Trabant umkreiste, wobei er sich nie mehr als zwei, drei Meter entfernte. Der Junge war sehr hübsch, hatte dunkle, volle, lockige Haare und einen grazilen Körper. Er hatte eine schwarze Badehose an, die viel zu groß war für seinen schmächtigen Leib. Hin und wieder erhob sich die Mutter und ging am Meer entlang. Dann folgte ihr der Kleine oder ging einige Schritte voraus, denn auch jetzt bestand die feste räumliche Bindung zwischen beiden weiter. Wenn die Mutter stehen blieb, blieb auch der Junge stehen. Wenn sie sich umdrehte und zurückging, drehte auch er sich um und folgte ihr im Abstand jener für ihn offenbar magischen Länge von zwei, drei Metern. Später saßen sie am Wasser und spielten mit Schaufel und Förmchen. Es war deutlich zu sehen, dass das Kind alles dafür tat, die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erregen, und sie tat alles, um sie ihm zu schenken. Das Bild berührte mich seltsam und stieß mich zugleich ab; es hatte etwas Obszönes, Inzestuöses, das mich an meine eigene Kindheit erinnerte. War es damals mit mir nicht genauso gewesen? Auch ich war verliebt in meine Mutter gewesen, auch ich hatte keinen Schritt ohne sie getan. Ich schlief im Ehebett, weil Krieg war und mein Vater irgendwo auf See. Auch ich war solch ein Trabant gewesen, den die mütterliche Sonne als Spiegel missbrauchte.
Irgendwann verschwanden die beiden. Der Junge trug Eimer und Schäufelchen in der einen Hand, die andere war mit der der Mutter verschmolzen. So gingen sie davon. Ich sah ihnen nach mit einem Gefühl von Trauer und Enttäuschung.
Ich gab meiner Mutter schon lange die Schuld an meinem Versagen, meinen gescheiterten Ehen. Sie hatte in mir überhöhte Ansprüche und mangelnde Toleranz gefördert, so dass es mir schwer fallen musste, in einer Beziehung ›Erfüllung‹ zu finden. Ja, sie hatte bewusst oder unbewusst dafür gesorgt, dass
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