Der Strandlaeufer
verehrt und sogar geliebt. Mein Vater war immer irgendwie absent, auch wenn er da war. Er war Seemann, er war im Krieg, er war im Wald oder im Bett meiner Mutter oder sonstwo, jedenfalls immer hinter dem Horizont meiner kleinen Welt. Das Niemandsland zwischen ihm und mir war zudem von meiner Mutter vermint. Sie beherrschte uns beide, indem sie uns gegeneinander ausspielte.
Als kleines Kind dachte ich manchmal, mein Vater lebe in Pommerland und Pommerland sei abgebrannt. So sang es schließlich manchmal seine Frau. Ich hatte nie das Gefühl, ihn je wirklich ganz und gar zu Gesicht zu bekommen. Wer da hin und wieder auf Urlaub war, bei uns am Tisch saß, Weißbrot toastete und sich mein Vater nannte, musste ein Stellvertreter sein, den mein richtiger Vater geschickt hatte, um uns, meiner Mutter und mir, die Wartezeit auf ihn zu verkürzen.
Ich stand auf, zahlte und ging an den Strand. Eine leichte Übelkeit hatte mich befallen. Ich setzte mich auf einen Stein und starrte in den Himmel. Er wirkte höher als sonst. Zarte Schleier von Stratozirrus zogen von Westen heran. Die Front der Wolkenbänder war hakenförmig gekrümmt. Ich wusste, was dies bedeutete: Ein Wetterwechsel stand bevor. Es würde bald Sturm geben.
Trotz der kühlen Jahreszeit legte ich mich in den Sand und schloss die Augen. Irgendwann tauchte ich ein in Bewusstlosigkeit. Kurz nachdem ich wieder erwachte, sah ich aus den Augenwinkeln einen Menschen. Wie ein Stück Treibholz lag er einige Meter entfernt flach auf dem Rücken. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Ich drehte mich auf den Bauch, schlug das Buch auf, das ich dabei hatte und tat so, als ob ich lesen würde, aber in Wirklichkeit beobachtete ich die Person neben mir. Sie lag völlig regungslos da, als sei sie angetrieben, der Kopf umgeben von einem Fächer offener, blonder Haare.
Meine Augen begannen im Salzwind zu tränen. Feine Sandkörner sammelten sich zwischen den Seiten des Buches und auf meinen Lippen. Plötzlich kam Leben in die Frau. Sie erhob sich, ging dorthin, wo die Wellen im Sand ausliefen und starrte aufs Meer hinaus. Der stärker werdende Wind zerrte an ihren Haaren. Schließlich drehte sie sich um und ging, ohne mir einen Blick zu schenken, in den schmalen Weg hinein, der zwischen Ferienhäusern zum Ort hinaufführte. Ich schaute ihr nach. Verwirrt, aufgewühlt. Ich verspürte den Drang, ihr nachzulaufen, wie ich es vor einigen Jahren noch getan hätte, nicht um sie anzusprechen, sondern um für eine Weile aus der verstohlenen Nähe zu einer Fremden, ihrem Gang, ihrem Ausgeliefertsein gegenüber meinen Blicken und geheimen Gedanken so etwas wie eine Wegzehrung für Tagträume zu beziehen. Doch ich ging nur zu der Stelle, wo sie gelegen hatte, und legte mich auf den Abdruck, den ihr Körper hinterlassen hatte.
Ich musste wieder eingeschlafen sein. Ich träumte von der Haut meines Vaters. Die wenigen Male, wo ich seinen nackten Oberkörper gesehen hatte, hatten mich fasziniert, da seine helle Haut über und über von zahllosen Leberflecken bedeckt war. Sie war wie das Negativ eines Sternenhimmels. Als ich älter wurde, traten bei mir dieselben Heerscharen von braunen Punkten auf. Es war beinahe, als schlüpfte ich mehr und mehr in seine Haut.
Dann träumte ich von der Insel meiner Kindheit. Das Meer dort war anders als hier, ebenso der Strand. Der Sand war grobkörniger, die Wellen waren dunkler, von jenem tiefen Grün, wie es planktonreiches Wasser aufweist. Die Stadt zog sich flach hinter dem Ufer dahin, kleine Häuser mit hölzernen Veranden, die Giebel dem Meer zugewandt, einige große Hotels mit verglaster Front, viele Balkons, Baumreihen davor, eine Mühle auf einem Hügel, vom Wind zerzauste Ulmen.
Würde ich die Gassen jener Stadt betreten, würde mich eine Welle von Zeit erfassen und um Jahrzehnte zurückspülen. Angst befiel mich, ich könnte mir selbst begegnen, würde wieder jene kindliche Hoffnung in mir spüren, von der ich heute nur noch die Wunden oder die Narben fühle, die ich ihr zu verdanken habe. Ja, das wusste ich noch: Einst war mein Vertrauen in ein erfülltes Leben stark gewesen. Natürlich dachte ich damals nicht über die Zukunft nach, hatte weder Pläne, noch stellte ich Prognosen an. Als Kind ist man auf eine andere Weise nachdenklich als später als Erwachsener. Man wägt nicht ab, man analysiert nicht, jedoch ist man keineswegs jenes dumpfe, vegetative Wesen, als das man sich im Nachhinein vielleicht vorkommen mag. Im Gegenteil,
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