Der Untergang der Hölle (German Edition)
sie es für eine Absicherung gehalten, die Trümmer auffangen sollte, welche von oben herabfielen (und tatsächlich bröckelte der Putz in großen Stücken von den Wänden, und einige davon lagen nun im Netz), doch schließlich dämmerte es ihr. Die Stränge des Netzes glänzten in einem lebendigen Rot. Sie bestanden aus menschlichem Gewebe, Knorpel und Sehnen, Muskeln und Nervensträngen. Die Bestandteile der Anatomie waren zu straffen Tauen gesponnen worden, die sich kreuz und quer zu einem gewaltigen Netzwerk verbanden.
Wo sie ihn erkennen konnte, war der Boden schwarz von zahllosen kleinen Bluttropfen, doch große Teile der Fläche bedeckte eine Schicht bleicher, orangefarbener Schalen, die wie eine Ansammlung von Herbstlaub wirkten. Sie bückte sich und hob vorsichtig eine dieser Schalen auf. Es handelte sich um den ausgetrockneten, toten Körper einer winzigen Krabbe.
Sie blickte zum Netz hinauf und nahm an den Strängen hier und da Bewegungen wahr. Lebendige Exemplare der Krabben, durch die sie mit nackten Füßen geschlurft war, wuselten durch das Netz oder verharrten in ihm. Das Orange ihrer Panzer leuchtete deutlich kräftiger als bei den verstorbenen Artgenossen. Sie schienen an den roten Reben zu knabbern, mit ihren Scheren daran zu zupfen. Einige Tropfen frischen Bluts fielen aus den zernagten Venen, die einen Teil der Substanz der lebenden Taue darstellten.
Genau in der Mitte des Netzes baumelte ein kugelförmiges Pendel und schwang in den gelegentlichen Böen feuchter Luft, die durch den Schacht wehten, ganz langsam hin und her. Die Frau bewegte sich auf die hängende Kugel zu und schob ihre Füße mehr durch die Schalen, als dass sie auf ihnen ging. Die merkwürdige weiße Asche, oder worum auch immer es sich handeln mochte, umwehte sie wie Blütenstaub.
Sie kam ein paar Schritte vor der Kugel zum Stehen, die auf einer Höhe mit ihrem Gesicht von einem Geflecht aus rohen Muskelfasern und freigelegten Nerven herabhing. Jetzt war klar zu erkennen, dass es sich um einen umgekehrt aufgehängten menschlichen Kopf handelte. Anfangs hatte sie sich von der Tatsache täuschen lassen, dass irgendein geschmolzenes Metall, möglicherweise Bronze, über ihn gegossen worden oder er in einen Bottich mit der verflüssigten Masse getaucht worden war. Jedenfalls hatte sich das Metall zu einem Helm verhärtet, der schon seit Langem mit Grünspan bedeckt zu sein schien. Irgendwie war der Mundbereich frei geblieben, Augen, Nase und Ohren hingegen waren vollständig versiegelt. Sie hob langsam und tastend den Arm in Richtung des umhüllten Schädels und wollte fühlen, ob Atemluft durch den schlaffen, weichen Mund drang.
Eine Schale knirschte unter ihren Füßen und die Zähne des Kopfes schnappten wild nach ihren Fingern. Sie zog die Hand weg und wich ein paar Schritte zurück, wobei sie sich nicht mehr um die scharfkantigen Schalen kümmerte. Die Zunge peitschte wie verrückt durch die Luft und Speichelklumpen flogen ihr entgegen. Dann fing der Kopf zu sprechen an. Sie stellte sich nicht die Frage, wie er ohne sichtbare Lungen überhaupt Luft holen konnte, denn der Vorgang des Atmens wurde in diesen Gefilden ohnehin nur zum Schein aufrechterhalten.
»Wer ist da? Wer ist das?«, schnarrte der Kopf. Seine Stimme klang nur entfernt menschlich und war noch schauriger als sein Anblick. Dann fing er an zu plappern, als ob er in fremden Zungen redete: »Der Herr ist mein Hirte nichts wird mir fehlen er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser er stillt mein Verlangen er leitet mich auf rechten Pfaden treu seinem Namen muss ich auch wandern in finsterer Schlucht ich fürchte kein Unheil denn du bist bei mir dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht …«
»Hör zu«, sagte sie und versuchte, den Kopf zu beruhigen.
Er schnatterte weiter: »Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde du salbst mein Haupt mit Öl du füllst mir reichlich den Becher lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit Amen Amen Amen Amen Amen Scheiße Scheiße neeein tut mir nicht wieder weh ihr Scheißer ihr beschissenen Dämonen wo wart ihr hä? Wo seid ihr hingegangen? Ihr habt mich glauben gemacht, ihr wärt weg!« Der Kopf begann, jämmerlich zu schluchzen. »Ihr habt mich glauben gemacht, ihr wärt weeeg. « Als ob ihre spöttische Abwesenheit für ihn die schlimmste Folter von allen gewesen wäre.
Dämonen. Das Wort hallte im Geist
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