Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
auf diese Weise Verachtung dem Wearda gegenüber zum Ausdruck, der ihm Verspätung vorgeworfen hatte.
»Der neue Mond kommt, diesmal mit der höchsten Flut des Jahres«, grollte er. »Ich heiße Euch erneut willkommen … Prinzessin.«
Die Frau hob ihre Hände zur Kapuze.
Durch die Bewegung öffnete sich der Mantel, und zum Vorschein kam ein waldgrüner Rock. Vorn war er offen und zeigte eine dunkelbraune Kniehose und wadenhohe Reitstiefel. Der Griff eines Reitersäbels ragte neben der linken Hüfte hervor. Die Frau strich die Kapuze zurück, und sichtbar wurden dichtes kastanienbraunes Haar und ein davon umrahmtes zartes Gesicht mit gleichmäßigen Zügen, das manche Leute für hübsch hielten.
»Herzogin, Meister Asche-Splitter«, korrigierte die Frau den Zwerg, aber ihr Stimme zitterte und brach. »Immer … Herzogin.«
Reine Faunier-Âreskynna, Herzogin von Faunier und Prinzessin durch Einheirat in die königliche Familie von Malourné, nickte respektvoll, fast ehrfürchtig.
»Das Spiel mit Titeln ändert nichts«, erwiderte der dunkle Zwerg. »Es ist eine Respektlosigkeit dem Erbe gegenüber. Eine Prinzessin der Âreskynna besucht die Hassäg’kreigi.«
Ein leises Lachen – es klang wie eine Lerche im Wald – kam von der Gestalt im braunen Mantel.
»Ach, erspar uns das, Smarasmôy, du alter Geisterfreund!«, flüsterte sie und nannte den Zwergennamen des Neuankömmlings. »Titelpräferenz verstößt nicht gegen die Regeln des Anstands.«
Der Gesichtsausdruck von Meister Asche-Splitter veränderte sich. Er hob den Blick seiner schwarzen Augen zur großen, schlanken Gestalt.
»Chuillyon?«, fragte er und zwang sich, eine finstere Miene zu schneiden. »Welchem dummen Streich verdankst du diesen Wachdienst?«
Er sprach in einem sarkastischen Ton, aber in seiner Stimme lag auch die Missbilligung eines Älteren gegenüber den Dummheiten eines Jungen.
»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, wirklich nicht«, sagte Chuillyon unschuldig. »Dieser Wachdienst geht auf meine freie Entscheidung zurück.«
Daraufhin wurde Asche-Splitter ernst, und in seinem Gesicht zeigte sich fast so etwas wie Sorge. »Warum hast du nicht jemanden von deinem Orden damit beauftragt?«
Herzogin Reine blieb still, als Chuillyon die Kapuze seines braunen Mantels zurückstrich, und auch die weiße Haube darunter.
Laternenlicht fiel auf das dreieckige Gesicht eines Elfen, der die großen bernsteinfarbenen Augen seines Volkes hatte, aber keineswegs jung war. Verblasste Strähnen durchzogen die goldbraunen Locken, die zu beiden Seiten des spitzen Kinns herabreichten, und tiefe Falten hatten sich in die Augenwinkel gegraben. Die Nase war selbst für einen Elfen etwas zu lang. Weitere Falten bildeten kleine Furchen in den Mundwinkeln, vielleicht nicht nur Anzeichen von Alter, sondern auch von häufigem Lachen.
»Wie ergeht es dem Orden der Chârmun ohne deine schelmische Leitung?«, fragte Asche-Splitter.
Chuillyon, dessen Name »heilig« bedeutet, verlor sein sanftes Lächeln. »Angesichts der ungewissen Zeiten … so gut wie den Steingängern, nehme ich an.«
Herzogin Reine zuckte zusammen und versuchte ruhig zu atmen, aber die Mühe war ihr deutlich anzusehen. Ein Wearda – mit einem jungenhaften Gesicht, das nicht zu seiner kräftigen Statur passte – beugte sich zum Hauptmann vor.
»Wir erregen zu viel Aufmerksamkeit, Herr.«
Reines Blick glitt zu den Hafenarbeitern. Drei Zwerge beobachteten Meister Asche-Splitter und die kleine Versammlung am Kai mit wachsendem Staunen.
»Genug geredet«, knurrte der Hauptmann. »Lasst uns gehen.«
»Tristan!«, ermahnte ihn die Herzogin mit scharfer Stimme. Leiser fügte sie hinzu: »Du wirst dem Meister der Steingänger gebührenden Respekt zollen!«
Die anderen nahmen ihren Ärger wahr und schwiegen. Chuillyon legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Hauptmann. »Nichts für ungut.«
Asche-Splitter nickte und sah kurz in Richtung der Gaffer hinter ihnen.
»Du hast recht, Hauptmann«, sagte er. »Gehst du mit mir voran?«
Asche-Splitter wandte sich an Reine, als der Hauptmann nach vorn trat und wartete. Trauer oder vielleicht tiefes Bedauern erschien im zerfurchten Zwergengesicht. Die Herzogin versteifte sich unwillkürlich, als sie die ernste Stimme hörte.
»Es wird erneut Zeit für Euch, Prinzessin … in die Unterwelt zurückzukehren.«
1
Der schnelle Aufzug stieg über den Sims am steilen Berghang und hielt schwankend
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