Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
an der Zwischenstation. Wynn Hygeorht trat von der Plattform und erreichte Cheku’ûn, Buchtseite, einen der vier Orte der Zwergennation Dhredze Seatt an der Beranlômr-Bucht. Selbst in dieser schwindelerregenden Höhe wirkte die Bucht tief unten groß und breit. Die winzigen Lichter von Calm Seatt markierten die ferne Küste, und im Osten kroch das erste zaghafte Rot der Morgendämmerung über den Horizont.
Wynn schlug ihre Kapuze zurück und strich einige Strähnen ihres hellbraunen Haars beiseite, die ihr der Wind ins ovale Gesicht blies. Unter dem Mantel trug sie die graue Kutte des Ordens der Katalogie in der Weisengilde.
»Endlich sind wir da«, sagte sie.
Die Hündin Schatten – größer als ein Wolf und mit einem glänzenden schwarzen Fell – jaulte leise, als sie durchs Gittertor des Aufzugs wankte. Sie schluckte, wie in dem Versuch, die letzte Mahlzeit bei sich zu halten, und Speichel tropfte aus ihrem Maul.
Chane Andraso erging es kaum besser. Der große, schlanke und breitschultrige Mann hielt sich bis zum letzten Moment am Geländer fest und ließ erst los, als er die steinerne Rampe unter den Füßen hatte. Der Wind zerzauste ihm das fransige rotbraune Haar, als er Schatten folgte.
Er zitterte.
An der Kälte konnte es nicht liegen, denn die machte ihm als Untotem nichts aus, und Wynn hatte nie beobachtet, dass er sich vor etwas fürchtete. Erleichterung erschien in seinem schmalen Gesicht, als er wieder festen Boden unter sich spürte. Dann sah er zu den großen Rädern des Aufzugs zurück, die sich jetzt nicht mehr bewegten.
Wynn seufzte. »Meine Güte, so schlimm war es doch gar nicht.«
Chane sah auf sie hinab, sprachlos und entgeistert. Schatten versuchte zu knurren, aber es wurde nur ein Würgen daraus. Sie schüttelte sich, als wollte sie das ganze Erlebnis auf diese Weise loswerden.
Wynn zuckte die Schultern und ging los.
»So viel Aufhebens wegen einer Fahrt den Berg hinauf, nach all dem, was wir hinter uns haben«, murmelte sie.
Eine Kette von sehr ungewöhnlichen Ereignissen hatte Schatten, Chane und Wynn hierhergebracht.
Vor zwei Jahren hatte Wynn ein altes Schloss in den höchsten Bergen des östlichen Kontinents gefunden, darin eine riesige Bibliothek mit Texten, verfasst von uralten Edlen Toten, vielleicht den ältesten aller Vampire. Eine Vampirin hatte dort noch existiert, nach all den Jahrtausenden. Wynn hatte einen winzigen Teil jenes Schatzes mitgenommen, nur so viel, wie ihre Gefährten und sie tragen konnten. Sie hatte gehofft, dass die ausgewählten Texte, geschrieben in vergessenen Dialekten und toten Sprachen, Licht ins Dunkel der Vergessenen Geschichte und des großen Krieges bringen konnten, von dem manche glaubten, dass er nie stattgefunden hatte.
Nach ihrer Rückkehr zur kleinen Gildenniederlassung auf dem östlichen Kontinent hatte Wynn den Auftrag erhalten, die kostbaren Texte nach Calm Seatt in Malourné zu bringen, zur Hauptniederlassung der Weisengilde. Sie war an Bord eines Schiffes gegangen und hatte das östliche Meer und den zentralen Kontinent überquert, in der Hoffnung, sich nach der beschwerlichen Reise mit den Texten befassen und sie für die anderen Weisen der Gilde übersetzen zu können.
Doch in den letzten Jahren hatten sich die Dinge nie so entwickelt, wie sie zunächst gehofft hatte.
Bei ihrer Ankunft in Calm Seatt wurden die Texte zusammen mit ihren Reisetagebüchern beschlagnahmt. Nur einige wenige hochrangige Gildenmitglieder bekamen sie zu Gesicht. Bis Kuriere der Gilde, die übersetzte Teile der Texte zur Abschrift in die Skriptorien der Stadt trugen, des Nachts ermordet wurden. Daraufhin war Wynn klar geworden, dass sie die Texte wieder an sich bringen und ihr Rätsel lösen musste.
Zuerst hatte sie angenommen, dass sich die Unterlagen irgendwo auf dem Gelände der Gilde befanden, doch später gelangte sie zu der Erkenntnis, dass sie woanders versteckt sein mussten. In der Gilde fielen ihr dunkel gekleidete Zwerge auf, doch sie verschwanden genauso spurlos, wie sie gekommen waren. Nur durch Zufall erfuhr Wynn, um wen es sich handelte.
Um Hassäg’kreigi, Steingänger.
Und jetzt befand sie sich zusammen mit Chane und Schatten in Dhredze Seatt.
Zwei in Winterkleidung gehüllte Menschen, vielleicht Händler aus Calm Seatt, warteten mit Kisten auf den größeren Lastenaufzug. Aber für den kleineren Lift, mit dem Wynn gekommen war, gab es keine Passagiere. Auf der Hauptstraße waren mehr Leute unterwegs als in den Siedlungen bei
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