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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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das Ticken der Uhr, das ihm seit seiner Kindheit vertraut war, in der Illusion gewiegt, er sei zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Dieses Ticken hatte er als Kind gehört, wenn er auf dem Sofa im Wohnzimmer lag, wo er seinen Nachmittagsschlaf halten sollte. Selten hatte er ein Auge zugetan. Er war in Tagträume gesunken, bis ihn seine Mutter mit Kakao oder einem Apfel wecken gekommen war.
    Er knipste die Nachttischlampe an. Halb sechs. Er hatte mehr als zwei Stunden geschlafen. Die Sonne stand offenbar so tief, daß ihre Strahlen nur mehr die obersten Stockwerke in der engen Gasse erreichten. In der Wohnung war es wie später Abend.
    In Unterhosen schlurfte er ins Wohnzimmer. Es sah aus, als sei gerade noch jemand dagewesen. Als habe jemand die Wohnung auf Zehenspitzen verlassen, um seinen Schlaf nicht zu stören. Er spürte geradezu die Abdrücke, die dieser Jemand im Raum hinterlassen hatte.
    »Papa?« rief er. Obwohl er wußte, daß er keine Antwort bekommen würde.
    Beim Anziehen sah er aus dem Fenster. Das Stück Plastik. Die Motorräder. Im Abfalleimer die Flasche.
    Keine Spur von Veränderung.
    Zu Hause fand er in einem Regal eine Konservendose. Während sich der Teller in der Mikrowelle drehte, fragte er sich, wann er wieder in ein Restaurant gehen würde. Er sah zu, wie die Sekunden auf der Anzeige heruntergezählt wurden. Noch 60. Noch 30. 20. 10.
    Er betrachtete das Essen. Hunger hatte er, aber keinen Appetit. Er deckte den Teller zu, schob ihn zur Seite und stellte sich ans Fenster.
    Unter ihm lag die Brigittenauer Lände. Eine in saftigem Grün leuchtende Baumreihe verdeckte ein wenig die Sicht auf das trübe Wasser des Donaukanals, der leise vorbeiplätscherte. Auf der anderen Seite ragten die Bäume auf, die die Heiligenstädter Lände säumten. Rechts vom Gebäude von BMW Wien drehten sich nach wie vor die zwei großen Ö3-Logos auf dem Dach des ebenfalls verstummten Radiosenders. Am Horizont schlossen die bewaldeten Hausberge die Stadt ein: der Hermannskogel, der Dreimarkstein, der Exelberg. Und am Kahlenberg, wo Jan Sobieski vor über dreihundert Jahren gegen die Türken marschiert war, strebte die riesige Fernsehantenne empor.
    Jonas überblickte das Panorama. Wegen dieses Ausblicks war er vor zwei Jahren hier eingezogen. Abends stand er hier und sah der Sonne zu, wie sie hinter die Berge sank und bis zuletzt Strahlen zu ihm heraufschickte.
    Er kontrollierte, ob die Wohnung abgeschlossen war. Er schenkte sich einen Whisky ein. Mit dem Glas kehrte er ans Fenster zurück.
    Viele Erklärungen gab es nicht. Eine Katastrophe war schuld. Aber wenn die Menschen etwa vor einem drohenden Angriff mit Nuklearraketen geflüchtet waren – wo blieben die Bomben? Und wer sollte sich die Mühe machen, so teure Technologie ausgerechnet an diese alte, nicht mehr wichtige Stadt zu verschwenden?
    Ein Asteroideneinschlag. Jonas hatte Filme gesehen, in denen sich nach einem solchen Ereignis kilometerhohe Flutwellen landeinwärts wälzten. Waren die Leute davor geflüchtet? Etwa in die Alpen? Aber dann mußte irgendeine Spur von ihnen geblieben sein. Man konnte doch nicht eine Millionenstadt innerhalb einer Nacht evakuieren und nur ihn vergessen. Und das alles, ohne daß er es merkte.
    Oder er träumte. Oder war wahnsinnig geworden.
    Mechanisch nahm er einen Schluck.
    Er sah hinauf in den blauen Himmel. An Außerirdische, die jahrelang unterwegs waren, bloß um ausgerechnet alle Wiener bis auf ihn verschwinden zu lassen, glaubte er nicht. Er glaubte gar nichts von alldem.
    Unter dem Telefon zog er sein Adreßbuch hervor. Er wählte jede Telefonnummer darin. Noch einmal rief er bei Werner an und bei Maries Verwandten in England. Er wählte die Nummern von Polizei, Feuerwehr, Rettung. Er versuchte die 911, die 160 604, die 1503. Es gab keinen Notruf. Kein Taxi. Keine Zeitansage.
    In seiner Videosammlung suchte er nach Filmen, die er noch nicht oder lange nicht mehr gesehen hatte. Er baute einen Stapel Komödien vor dem Fernseher auf. Die Jalousien ließ er herunterfahren.

2
    Er erwachte mit Halsschmerzen. Er befühlte seine Stirn. Fieber hatte er nicht. Er starrte an die Decke.
    Nachdem er sich beim Frühstück davon überzeugt hatte, daß der Fernseher flimmerte und die Straße menschenleer dalag, setzte er sich ans Telefon. Marie meldete sich weder am Handy noch bei ihren Verwandten. Auch sonst erreichte er niemanden.
    Er räumte das halbe Medizinkästchen aus, bis er ein Aspirin gefunden hatte. Während es

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