Wenn der Acker brennt
1
Am Morgen war Föhn aufgekommen. Die Berge, die sich sonst hinter einem dunstigen Schleier verbargen, ragten mit ihren Gipfeln an den stahlblauen Himmel und schienen zum Greifen nah. Die Hitze der letzten Wochen hatte den Fluss abschwellen lassen. Die weißen Kiesbänke, die sich nun überall aus dem smaragdfarbenen Wasser der Isar erhoben, boten einen atemberaubenden Anblick.
Christine saß am Ufer, hatte die Beine angezogen und hielt sie mit ihren Armen umfasst. Der Wind spielte mit ihrem langen dunklen Haar, blies es ihr immer wieder ins Gesicht. Sie störte sich nicht daran, schien es kaum zu bemerken. Eine Forelle tanzte nicht weit von ihr entfernt durch das Wasser, von irgendwoher drang fröhliches Kinderlachen. Überall war Leben, aber Christine nahm es nicht wirklich wahr. Die Trauer, die sie in sich trug, ließ es nicht zu. Nach einer Weile stand sie auf. Sie musste eine Entscheidung treffen.
Das Haus lag auf einem sanft ansteigenden Hügel, nur durch die asphaltierte Straße vom Flussufer getrennt. Für Christine aber war es, als müsse sie die Grenze zwischen zwei Welten überschreiten. Sie betrachtete den weißen Verputz des Hauses, die hohen Tannen, deren Schatten über das Mauerwerk glitten. Ein Schmetterlingsstrauch stieß mit seinen Ästen gegen die Stufen der Treppe. Blütenblätter rieselten auf das helle Terrakotta der Steinfliesen, hinterließen kleine violette Punkte.
Christine schloss die Augen, um den Duft der vertrauten Umgebung einzuatmen, wollte ihn für immer in ihrem Gedächtnis bewahren. Ihre Hand zitterte, als sie das Messingschild von der Tür löste: »Betti und Robert Weingard«, stand dort in geschwungener zarter Schrift. Unschlüssig blickte sie sich um.
Neben der Tür hatte ein stämmiger Oleanderbaum seinen Platz. Sie bückte sich, vergrub das Schild in dem irdenen Kübel, wandte sich schnell ab und öffnete die Tür. Sie hatte die letzten vier Nächte in ihrem alten Zimmer geschlafen, das noch immer so aussah, wie sie es einmal verlassen hatte. Das gelbe Polsterbett, die weißen Regale und der zierliche Sekretär mit den sechs kleinen Schubfächern, den ihr Vater ihr zu ihrem zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Alles war so vertraut, Zeugnisse einer behüteten Kindheit. Sonst hatte sie im Haus kaum etwas angerührt. Weder hatte sie sich auf die blaue Ledercouch im Wohnzimmer mit den bunten nebeneinander aufgereihten Kissen gesetzt noch die geordneten Bücher im Regal oder Bettis Puppensammlung in der Glasvitrine angefasst. Auf dem Esstisch lag das Etui mit dem Werkzeug ihres Vaters. Sie hatte es geliebt, ihm in der kleinen Werkstatt im Keller zuzusehen, wie er Kunstwerke aus Gold und Silber herstellte. Goldschmied war der schönste Beruf, den sie sich vorstellen konnte, bis sie ihren ersten Fotoapparat bekam. Sie war zehn Jahre alt, als sie ihre wirkliche Leidenschaft entdeckte. Sie wusste, dass ihr Vater sich gewünscht hatte, sie würde seine Arbeit fortsetzen, aber seine Enttäuschung darüber, dass sie ihm diesen Wunsch nicht erfüllte, ließ er sie nie spüren.
»Jeder hat seine eigenen Träume. Sie zu leben, das ist der einzig wahre Schlüssel zum Glück«, machte ihre Mutter ihr Mut.
Sie würde ihre Stimme nie wieder hören. Ihre Eltern waren seit einer Woche tot. Ein aufgeregter Anruf der Nachbarin, dass es einen Unfall gegeben habe, und auf einmal war Christine kein Kind mehr.
Sie betrachtete das Hochzeitsfoto, das in einem vergoldeten herzförmigen Rahmen an der Wand hing. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte. Sie hatte den gleichen hellen Teint und ebenso schwarzes Haar, nur ihre Augen waren nicht so dunkel wie die von Betti: Sie waren hellgrau mit einem bernsteinfarbenen Schimmer.
Die Gewissheit, die Eltern für immer verloren zu haben, war so quälend, dass Christine nicht einmal weinen konnte. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, kümmerte sich um all die Dinge, die erledigt werden mussten. Die Beerdigung war zu organisieren, Bankkonten und Versicherungen aufzulösen. Ihre Gedanken waren immer einen Schritt voraus, beschäftigt mit dem, was als Nächstes getan werden musste. Sie stand vor der Entscheidung, was sie aus dem Leben der Eltern aufbewahren wollte und was mit dem Haus geschehen sollte.
Sie ging ins Schlafzimmer und setzte sich auf das Bett aus dunkel gemasertem Kiefernholz. Auf der Frisierkommode neben dem Fenster lag ein Fotoband: »Sommer in der Provence«. Ihr drittes Buch. Es war erst vor ein paar Tagen auf
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